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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anouk Markovits
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wieder nach hinten ins Notizbuch zurück und entdeckte dort einen Luftpostumschlag aus Paris. In einem mit Schreibmaschine getippten Brief wurde Monsieur Lichtenstein mitgeteilt, dass er unfruchtbar war.
    Der Abend senkte sich übers Loft. Wieder und wieder blätterte Atara durch Milas Notizbuch und versuchte sich einen Reim auf die Zahlenreihen zu machen, die bruchstückhaften Bibelzitate, den Brief aus dem Labor. Als sich die Einzelteile endlich zu einer Geschichte zusammenfügten, nahmen ihr Tränen die Sicht.
    Sie stand auf und schaute aus dem Fenster.
    Warum sollte das Mädchen ausgerechnet zu ihr kommen? War nicht schon vor langer, langer Zeit eine Vereinbarung getroffen worden? Atara hatte ihre Freiheit bekommen, doch dafür hatte sie die Zugehörigkeit zur Familie verloren. Sollte diese Vereinbarung jetzt, nach siebenundvierzig Jahren, neu verhandelt werden? Ihr Herz begann schneller zu schlagen.

Williamsburg, Brooklyn
    Judith stand auf der Frauenempore über dem Gebetssaal und drückte die Stirn gegen das Holzgitter. Ich bin … ich bin, und meine Kinder sind … Sie brachte es nicht über sich, den Gedanken zu Ende zu denken.
    Unten im Saal tanzten ihre Brüder mit dem Bräutigam des Gesetzes und wussten nicht, dass sie illegitim waren. Und im Gleichschritt mit ihnen tanzte ihr Yoel, dessen Rücken sich schon jetzt vom vielen Lernen krümmte. Die Einladungen waren bereits verschickt: Judith und Yoel, Trauung um halb sechs …
    Weil sie nicht wollte, dass die anderen Frauen sie weinen sahen, bahnte sich Judith einen Weg in den hinteren Bereich der Empore und zwängte sich dort die überfüllte Treppe hinab. Draußen schlängelte sie sich durch das Labyrinth aus Kinderwägen, die Straße und Gehsteig verstopften.
    Noch am Sabbat vor zwei Wochen hatte sie an sich halten müssen, als sie die Straße zum Gebetshaus entlangschlenderte, damit sie nicht laut sang: Wie schön sind deine Zelte, Jakob! Wie schön der im weich glühenden Licht schimmernde Gebetssaal, wie schön das gedämpfte Williamsburg, wenn der Verkehr zu Ehren des Heiligen Tags zum Erliegen kam. Noch vor zwei Wochen hatte Judith gewusst, dass auch sie bald ein weißes Kopftuch tragen und sich über einen Kinderwagen beugen würde, während ihr Ehemann die sieben Runden tanzte; auch sie würde Seelen, die bereits auf die Geburt warteten, in diese Welt holen. Und wenn alle Seelen auf der Welt waren und der Messias kam …
    Doch was war mit Seelen wie der ihren? Beschleunigten sie das Kommen des Messias, oder verzögerten sie es? Seit sie das Notizbuch ihrer Großmutter gelesen hatte, suchte sie jeden Abend nach Informationen über das Samenvergießen. Den gottlosen Büchern nach gab es so etwas, in den Büchern ihres Vaters aber durfte es nicht geschehen.
    Sie lief in Richtung Norden zur Williamsburg Bridge, denn sie wollte das Versprechen halten, das sie ihrer Großmutter gegeben hatte: Bevor sie das Geheimnis zu den Rabbinern trug, würde sie die Frau treffen, die gegangen war: Möge ihr Name ausgelöscht sein.
    Sie stieg die Treppen zur Fußgängerrampe hoch. Sie ging nicht zum ersten Mal über die Brücke, doch noch nie war sie hier allein und in der Dunkelheit unterwegs gewesen. An dem orangefarbenen Zaun lehnten vier Jugendliche und beobachteten sie. Sie hätte sich die Perlenkette unter den Kragen stecken müssen, doch sie durfte nicht rennen, die Jungen wären ohnehin schneller. HaSchem, bitte verlass mich nicht.
    Als sie an den Jugendlichen vorbei war, umklammerten ihre Finger die Kette. Ob man sie bitten würde, die Perlen zurückzugeben, wenn das Geheimnis ans Licht kam? Ihr Verlobungsgeschenk von Yoel? Die Scham stieg ihr rot in die Wangen und breitete sich bis zum Hals aus.
    Hinter ihr näherte sich ein Rumpeln; ein rechteckiger Lichtkegel. Der Zug ratterte vorbei und zog seinen Schatten hinter sich her.
    Eine eingezäunte Fußgängerbrücke führte über die Gleise. Judith presste das Gesicht an den Zaun. Ein Lastkraftwagen donnerte vorbei, der nächste Zug dröhnte näher. Inmitten des Lärms formten Judiths Lippen das Urteil aus den Büchern ihres Vaters: Ich bin verboten. Es schnürte ihr die Kehle zu. Sie schwankte hinter dem Zaun, als sei die Fußgängerbrücke die Frauenempore und die Bahnstrecke darunter das Podium des Rebbe. In ihrem sittsamen Kostüm und den Pumps schwankte sie, als sei die ganze Welt ein Gebetssaal und die Nacht über ihr das verborgene Auge des Herrn. Ihr Körper krümmte sich vor Angst, der Herr könne

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