Ich bin verboten
nicht mehr voller Barmherzigkeit auf sie hinabschauen. Vielleicht hatte der Herr sie schon vor der Geburt verlassen.
Das Dröhnen eines Zugs unterbrach ihr Schwanken. Auf der Rückseite des letzten Wagens zitterte ein leuchtendes J in einem Kreis und wurde kleiner. Eine große Straßenlaterne warf ihr Licht auf die Gleise. Am liebsten hätte sie sich an den Laternenpfahl geschmiegt und ausgeruht, doch sie musste weiter.
Am Rande Manhattans lag ein hell erleuchtetes Feld, auf dem junge Menschen in ihrem Alter Bälle in Ringe warfen. Manche trafen sogar im Laufen und obwohl sie von anderen Mitspielern bedrängt wurden. Judith starrte eine Weile auf die unbeschwerten Jugendlichen, dann ging sie weiter.
Hell erleuchtete Bürotürme, in denen sich aber nichts bewegte. Ein gespenstisches Glühen lag über der Stadt. Dort lebte Atara Stern.
Manhattan
Atara bereitete sich auf Judiths Besuch vor. Sie verhängte alle Darstellungen von Menschen, die Ölgemälde, in denen Judith nur Übertretungen sehen würde: den fragend aus einem geschnitzten Lehnstuhl aufblickenden Großvater, ein Fundstück von einem Prager Straßenmarkt; eine in üppige Pink-, Lavendel- und Lilatöne gewandete römische Großmutter; eine unvollendete Schwester mit durchscheinendem Haarband, die sie von einem befreundeten Sammler in Strasbourg erstanden hatte. Die mittelalterlichen Landkarten und von Mauern umgebenen Gärten ließ sie frei.
Sie blieb vor einer weißen Hartschaumplatte stehen, an der Laser-Printouts hingen. Als Lower Manhattan vor ein paar Jahren in Rauch und Asche gehüllt war, hatte ihr Produzent einen Link zum Video einer Steinigung gemailt. Atara hatte ein paar Standaufnahmen ausgedruckt: eine blau verschleierte Form, die sich aus dem Boden zu drücken schien – ein Mensch, weiblich, gefesselte Hände; ein Kreis bärtiger Männer, die um eine sich windende rote Masse standen. Was konnte sie tun?
Im schwindenden Tageslicht sah es so aus, als würde das Blut von den Standaufnahmen auf die Platte auslaufen, von dort zu den Philosophiebüchern, den Romanen und Gedichtsammlungen weiterrinnen, bis es schließlich die etikettierten runden Blechbehälter mit ihren Filmen erreichte. Atara drehte die Platte mit den Printouts zur Wand um.
Sie zog ein langärmeliges Kleid an und stellte zwei Pappbecher auf eine Papierserviette, trotzdem ließ sich nicht verbergen, dass sie Atara Stern war, die Tochter, die gegangen war, die Tochter, um die Zalman trauerte. Die Geschichten über sie mussten dem Mädchen Angst machen. Wer war Atara Stern in diesen Geschichten? Eine Verräterin? Tot? Oder, schlimmer noch, ein zweifelnder weiblicher Spinoza? Ach, nein, es gab gar keine Geschichten über sie: Möge Ihr Name Ausgelöscht Sein.
Sie würde dem Mädchen helfen, selbst wenn es sich nicht helfen lassen wollte. Mila wusste, zu wem sie ihre Enkelin geschickt hatte, etwas anderes konnte sie nicht erwarten. Atara würde Judith helfen, selbst wenn die alte Hannah und der alte Zalman mitbekamen, dass ihre verlorene Tochter ein junges Mädchen zum Gehen überredete. Die alten Gesetze hatten schon genug Schaden angerichtet.
Atara sah im Flur nach. Niemand.
Das Telefon klingelte. Eine Nummer in Brooklyn. Schweigen in der Leitung, dann ein zischender Atemzug, den Atara auch jetzt noch wiedererkannte. »Mila?«
Keine Antwort, doch es war Mila, die nur die Sünde, an einem Heiligen Tag eine Telefonnummer zu wählen, nicht noch verschlimmern wollte.
»Sie ist noch nicht da«, sagte Atara.
Noch ein zischender Atemzug. Atara hörte Mila beten, dass Judith, die Tochter der Rachel, sicher über die Brücke kommen möge. Dann verwandelte sich Milas Atem in ein Flüstern: »An Simchat Thora wird sie keine Klingel drücken.«
»Ich sitze so, dass ich jeden Schritt im Treppenhaus hören kann.«
»Sie hat mir geschworen, dass sie zu dir geht.«
»Geschworen? Dann war es gar nicht ihre Entscheidung?«
»Nein.«
»Was erwartest du von mir?«
»Ich will sie natürlich wiederhaben. Hier bei uns in Williamsburg.«
Atara fiel ein, dass Mila niemals aufhörte, inbrünstig zu hoffen, selbst wenn die Aussichten noch so schlecht standen. »Und wenn sie das Geheimnis nicht für sich behält?«, fragte Atara. »Wenn sie glaubt, dass es ihr Schicksal und das Schicksal ihrer Kinder und ihrer Mutter sei, in Schande am Rande der Gemeinde zu leben?«
»Ich … ich kann nicht zulassen, dass sie die Familie zerstört.«
»In dem Fall wäre es dir sogar lieber, dass ich ihr
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