Ich bin verboten
helfe? Dass ich ihr helfe zu gehen?«
»Sie ist ein braves Mädchen. Vielleicht kannst du ihr helfen zu verstehen, dass ich treu war … ich war immer treu.«
Atara begriff, dass es Mila nicht darum ging, Judith den Weg nach draußen zu zeigen. Sie suchte für ihre Enkelin nach einem Schlupfloch zurück.
»Wie viel Zeit haben wir? Wann ist die Hochzeit?« Dann hörte Atara die Treppenstufen knarren. »Sie ist da«, flüsterte sie und eilte zur Wohnungstür.
Von einem chassidischen Mädchen aus Williamsburg hätte Atara erwartet, dass sie verschüchtert in der Tür stehen bleiben würde, doch Judith stürmte mit verschränkten Armen und geröteten Wangen an ihr vorbei ins Zimmer.
»Was sollen Sie mir im Auftrag meiner Großmutter erzählen?«
Sie schien viel zu jung für eine verlobte Frau zu sein. So spät am Abend sollte man sie ins Bett stecken und ihr Gutenachtgeschichten erzählen.
Judith lief durchs Loft und blieb am Fenster stehen. Ihr Rücken war steif. Sie fürchtete, von Ataras Wänden und Stühlen, von den Büchern und Filmdosen beschmutzt zu werden.
»Du musst Judith sein«, sagte Atara. »Ich bin froh, dass du gekommen bist. Du bist natürlich den ganzen Weg gelaufen. Komm, ich nehme dir den Mantel ab.«
Judith wirbelte herum. Sie kreuzte ihre Handgelenke über der Brust, und ihre Hände umklammerten die Reversaufschläge der dunklen Kostümjacke über dem schmalen Rock, der wie vorgeschrieben zehn Zentimeter übers Knie reichte. Sie war größer als Mila, doch sie hatte die pflaumenblauen Augen und das dunkle Haar ihrer Großmutter. Und sie war so schön, wie Mila damals gewesen war.
»Was haben Sie meiner Großmutter angetan?«
Atara legte eine Hand auf Milas Notizbuch. »Ich wünschte, ich hätte etwas getan.«
Judith blickte weg. »Sie müssen mir gar nicht erst erzählen, dass hier draußen alles erlaubt ist.«
»Es obliegt mir nicht zu sagen, was verboten oder erlaubt ist. Ich glaube, deine Großmutter möchte, dass du … dass du verstehst, was passiert ist.«
»Ich weiß, was ich bin. Was meine Kinder sein werden. Und deren Kinder.«
Das Mädchen klang trotzig, doch Atara sah die Tränenspuren auf ihrem Gesicht. Sie deutete auf einen Stuhl am Tisch und goss Wasser in die Pappbecher. »Setz dich, Judith. Bitte, setz dich.«
Als Judith endlich Platz nahm, bemerkte Atara, dass sie das Telefon nicht eingehängt hatte. Vermutlich sprach sie mit zwei Personen. »Wenn diese Geschichte ausgestanden ist«, sagte sie, »wenn du zu deiner Großmutter zurückgegangen bist … Mila … bitte sag ihr, sag ihr … Ach, lass uns zum Anfang gehen. Wir wollen mit Zalman Stern beginnen, als er in deinem Alter war, siebzehn …«
Atara erzählte von Zalman in Siebenbürgen, von Josef und seiner Schwester Pearela, von Florina und ihrem Sohn Anghel. Sie erzählte von der frommen Mila in der Seminarschule, von der Hochzeit Josefs und Milas, und sie erzählte das wenige, was sie von den zehn fruchtlosen Ehejahren wusste.
Judith hielt den Kopf gesenkt, ihr Nacken lag frei. Stundenlang hatte sie völlig regungslos zugehört. Atara hatte sie immer wieder aufgefordert, selbst etwas zu sagen, zu reagieren, eigenes Wissen beizusteuern, aber das Mädchen war still geblieben. Atara zog den Vorhang auf, der die Schlafnische abtrennte.
»Es ist fast schon Morgen. Du brauchst Ruhe. Wir machen weiter, wenn du wach wirst.«
Das Mädchen rollte sich auf der Tagesdecke zusammen und war innerhalb von Sekunden eingeschlafen. Ihre Augenlider zuckten, ihr Atem ging weicher, der Mund stand halb offen.
Atara spürte einen Hauch jener Sehnsucht, die Mila so viele Jahre mit sich herumgetragen hatte. Sie selbst hatte sich die Sehnsucht nach einem Kind niemals erlaubt.
Ein Lastkraftwagen donnerte die Canal Street entlang.
Judith stöhnte. Ihr Arm fuhr hoch und schwang über den Kopf, wo er liegen blieb. Dann wurde sie wieder ruhig.
Atara legte sich auf die Couch.
Obwohl keiner ihrer Filme in der Welt der Chassidim spielte, hatte Atara sich oft vorgestellt, dass ein junges Mädchen in der ersten Kinoreihe saß, ein Mädchen, das auf der Schwelle zwischen Gehen oder Bleiben schwankte …
Ihr war klar, dass Judith sich niemals ein Leben draußen vorgestellt hatte, tot für ihre Eltern, wie Atara für Zalman und Hannah tot war.
Selbst für Atara, die gehen wollte und das berauschende Gefühl von Risiko und Neuanfang gespürt hatte, war es schwer genug gewesen.
Als ihr zu Ohren kam, dass Zalman einen Detektiv damit
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