Ich bin verboten
beauftragt hatte, sie heimzubringen, hatte Atara ihre gesamten Ersparnisse für ein Ticket in die Vereinigten Staaten ausgegeben, wo sie mit achtzehn als erwachsen gelten würde. Atara dachte an die Nächte, die sie in den Bahnhöfen Manhattans verbracht hatte, an den Polizisten, der sich mit seinem Schlagstock in die Hand klopfte, während er zusammengesackte Männer herumkommandierte: »Los, weiter. Weg mit euch!« Aus einem Berg Einkaufstüten hatte sich eine brabbelnde Frau herausgeschält. Auch die achtzehnjährige Atara hatte ihren Rucksack geschultert und war ziellos weiter im Bahnhof herumgeirrt.
Atara konnte Judith den Kampf um Essen und um ein Dach über dem Kopf ersparen, sie konnte ihr sogar eine Collegeausbildung ermöglichen, doch die Verluste konnte sie ihr nicht ersparen, und auch nicht die qualvolle Suche nach einer neuen Identität.
Sie brauchte Zeit für das Mädchen, viel mehr Zeit als diese eine Nacht; und das Mädchen brauchte Zeit für sich. Sie würde mit Judith aufs Land fahren, sicher fände Mila eine Möglichkeit, etwas zu arrangieren und die Abwesenheit des Mädchens zu erklären. Vielleicht würde sie Judith ihren ersten Film zeigen, in dem ein Mädchen auf einer Rolltreppe stand, dann vor einem Fahrkartenschalter … Am nächsten Tag wollte sie einen Psychiater anrufen und ihn um Rat fragen. Sie würde einen Termin für Judith ausmachen und versuchen, in allen Fragen, die ihr selbst niemals ein Mensch beantwortet hatte, für das Mädchen da zu sein. Und falls Judith sich eines Tages dazu entschließen sollte, eine feste Größe in Ataras Leben zu werden … Wäre es nicht wunderbar für sie beide, ein Gegenüber zu haben, das verstand, wo die jeweils andere herkam und welch weiten Weg sie zurückgelegt hatte? Atara zog sich die Chenilledecke unters Kinn und erlaubte sich den Traum von einem Ende, in dem sie das Mädchen in den Armen wiegte und ihr ins Ohr flüsterte: »Es ist vorbei, du bist hier bei mir in Manhattan. Die Sonne geht auf, lass uns den Wasserkessel aufsetzen …«
Als Atara die Augen aufschlug, stand Judith mit dem Gesicht zur Morgensonne und betete.
Atara war sofort auf den Beinen. Sobald Judith mit ihren Gebeten fertig war, spülte sie ein paar Trauben ab und legte sie auf einen Pappteller.
»Danke, aber ich bin nicht hungrig«, sagte Judith.
»Aber schau doch, ein Pappteller. Und die Trauben sind nicht in Kontakt mit meinen Küchenutensilien gekommen. Du kannst sie essen. Du musst essen.«
Judith riss sich eine Traube ab und hielt sie zwischen Zeigefinger und Daumen. Sie zögerte, als überlegte sie, ob sie jetzt einen anderen Segen sprechen musste. Schließlich bewegten sich ihre Lippen. Sie führte die Traube zum Mund, schluckte und drängte Atara, mit der Geschichte fortzufahren.
»Aber du bist dort gewesen, Judith. Du musst mir erzählen, was passiert ist. Es wird dir guttun, darüber zu reden.«
»Etwas Verbotenes kann nicht gut für mich sein.«
»Du bist vom Land zurückgekommen und zu deinen Großeltern gegangen. Was ist dann passiert?«
Judith schwieg.
»Es ist ein schreckliches Gefühl, mit niemandem reden zu können«, sagte Atara.
Judith hatte erwartet, dass es bei Atara laut und lasterhaft zugehen würde, doch in dem hohen Loft herrschte Ruhe. Die fast schon kontemplative Stille erinnerte sie an das Studierzimmer ihres Vaters, nur dass das Licht bei Atara weicher war und aus verschiedenen kleinen Lichtquellen kam, während es bei ihnen daheim aus einer nackten Glühbirne fiel. Außerdem hatte sie mit einer gestrauchelten Atara Stern gerechnet, mit einer Frau, die unpassendes Make-up und unpassende Kleidung trug … In Williamsburg hätte Ataras Kleid tatsächlich als unziemlich gegolten, doch unanständig war es nicht, und das silberweiße Haar, das zu zeigen sie sich schämen sollte, umrahmte ein lächelndes Gesicht. Ja, Atara lächelte Judith an, obwohl sie wusste, wie Judiths Mutter gezeugt worden war. Sie lächelte, als schiene das alles keine Rolle zu spielen, nicht die geringste, und … und am liebsten hätte sich Judith in Ataras Arme geworfen und geweint. So hatte sie sich eine Frau, die gegangen war, nicht vorgestellt. Möge Ihr Name …
»Ich habe immer versucht, alles richtig zu machen, ich hätte es verdient, Yoel Stern zu heiraten«, flüsterte Judith.
Atara nickte.
»Es stimmt, ich habe niemanden, mit dem ich reden kann«, fuhr Judith fort. »Wer bin ich denn, wenn Großvater Josef gar nicht mein Großvater ist? Aber solche
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