Ich bin verboten
gestrichen. In Großmutters Handschrift stand dort: Barmherziger Herr, lass es nächsten Monat mich sein. Schenke mir ein Kind, sonst sterbe ich …
In dem Moment kam Großmama Mila ins Zimmer zurück und schlug auf der Stelle das Buch zu. Ich habe mich geschämt und bin nach oben gerannt, und Großmama Mila ist mir wenig später gefolgt. Sie hat mich in den Arm genommen und gesagt, dass ein kale-mejdel nicht traurig sein darf, das sei nicht gut für den Teint, außerdem hätte ich nichts Falsches getan, schließlich sei es nichts Schlimmes, ein Notizbuch vom Boden aufzuheben und die Seiten zu trocknen. Sie hat mich in den Armen gewiegt, bis ich wieder lachte. Dann habe ich gefragt, ob sie und Sejde sehen wollten, wie mir der Schleier und die Tiara stehen. ›Es ist schon spät, mein Herzblatt‹, hat sie geantwortet, ›Sejde ruht sich aus. Zeig es ihm morgen, wenn du das Kleid anprobierst. Die Schneiderin kommt um neun.‹ Wir sind zurück in die Küche gegangen, um das Abendessen vorzubereiten. Das Notizbuch lag nicht mehr auf der Anrichte. ›Steht in dem Notizbuch die Geschichte von dir und Sejde Josef? Wie ihr überlebt habt?‹, wollte ich wissen. Manchmal wollen die Leute von drüben nicht über die alte Zeit reden, doch Großmama Mila sagte: ›Ja, dort steht, wie wir überlebten und zu leben beschlossen.‹ Ich kannte die Geschichte: Großmutter Mila und ihre Eltern waren in der Synagoge eingeschlossen. Spät nachts sind sie dann aufgestanden und haben sich auf den Weg gemacht. Die anderen, die geblieben sind, haben für die, die gehen wollten, gebetet. Ich weiß, dass Großmama Mila als kleines Mädchen auf den Schultern ihres Vaters den Fluss Nadăş durchquert hat …
›Lernt ihr das in der Schule?‹, hat Großmutter gefragt. ›Erzählen sie euch von der Flucht des Rebbe?‹
›Natürlich! Schon im Kindergarten haben sie uns erzählt, wie Gott einem Mann, der Juden retten konnte, einen Traum geschickt hat: Du musst den Rebbe von Szatmár retten, sonst wird eure Aktion scheitern.‹
Großmutter hat zur Decke hochgeschaut. ›Ach, der Traum …‹ Dann ist ihr Kopf vorgeschossen. ›Dir ist schon klar, dass der Rebbe selbst, mögen seine Verdienste uns schützen, unbedingt in den Zug wollte‹, hat sie gesagt. ›Weißt du, dass er seine Gemeinde und die Chassidim im Stich gelassen hat?‹ Und dann hat sie noch mehr apikorses (Ketzereien) von sich gegeben und behauptet, der Rebbe sei mit Hilfe eines Zionisten aus Siebenbürgen geflohen … Gott bewahre, niemand anders als HaSchem hat unseren Rebbe gerettet!
Anschließend hat mir Großmama Mila erklärt, dass man manchmal eine Tat als Sünde verkleiden muss, um mehr Heiligkeit in die Welt zu bringen, denn nur so werde der Satan nicht merken, dass es sich um etwas Gutes handelt. Ich hatte das schon in der Schule gehört, aber dort hieß es, so etwas dürfe niemals von Menschenhand geschehen, sondern sei nur Gott und seinen Engeln erlaubt.«
Einen Moment lang trat Schweigen ein, dann sprach Judith weiter.
»›Mein Josef bereitet sich auf die nächste Welt vor, und er fürchtet um seine Seele‹, hat Großmama Mila als Nächstes gesagt. Da mussten wir beide weinen. Großvater Josef hat doch wirklich nichts zu befürchten. Selbst wenn der Messias nicht kommt, bevor der Herr seine Seele zu sich ruft, wird er direkt ins Paradies gelangen. Ich habe zu Großmutter gesagt, dass Mama da sein wolle, sie wolle auf der Stelle zurückkommen, falls Großvater Josefs Gesundheit, Gott bewahre …
›In ihrem Zustand? Deine Mutter darf nicht zurückkommen, auf gar keinen Fall. Sie würde sich nur in die Hochzeitsvorbereitungen stürzen, und das ist im achten Monat gefährlich. Deine Mutter wird zur Hochzeit vom Land zurückkommen, nach Simchat Thora. Keine Sorge, mein Kind, dein Sejde wird noch hundertzwanzig Jahre alt. Du isst ja gar nichts! Meine eigene Enkelin hungert in meinem Haus? Iss, mein Kind, iss. Bist du fertig? Sprich deine Gebete und geh ins Bett, dein junger Körper braucht viel Schlaf.‹
Mitten in der Nacht bin ich aufgewacht. Unter dem Türspalt sah ich Licht. Ich bin raus aus dem Bett. Die Lampe auf Großmutters Nachttisch brannte, aber ihr Bett war leer. Es war so still im Haus. Ich bin auf Zehenspitzen die Treppe runtergeschlichen. Großmutter saß am Küchentisch, vor ihr lag das Notizbuch. Sie weinte. ›Ist Sejde Josef so krank?‹, habe ich gefragt. Sie blickte auf, klappte das Notizbuch zu und starrte auf die getrocknete Blüte unter dem
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