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Ich bleib so scheiße, wie ich bin

Ich bleib so scheiße, wie ich bin

Titel: Ich bleib so scheiße, wie ich bin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Niazi-Shahabi
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Mittelmäßigste aller Mittelmäßigen werden.
DIESE TRAUBEN SIND MIR
VIEL ZU SAUER
    Wer gerne eine gesellschaftliche Position innehätte, die er entweder nur mit viel Anstrengung und Glück erreichen könnte oder die ganz und gar außerhalb seiner Möglichkeiten liegt, braucht Trost. In einer solchen Situation tut jeder instinktiv das Richtige, er versucht, sich die unerreichbare Position madig zu machen, nach dem Motto: Diese Trauben da oben sind mir eh zu sauer. Diese Problemlösung genießt keinen guten Ruf. Wer auf diese Weise versucht, mit sich ins Reine zu kommen, macht es sich zu leicht, heißt es. Dabei ist es eine effektive Methode, um sein Seelenheil wiederherzustellen, sollte es wieder mal durch die penetrante Vorführung unserer angeblich zahlreichen Möglichkeiten aus dem Lot gekommen sein.
    Im Laufe seines Lebens wird man öfter Träume begraben müssen, als dass man einen von ihnen verwirklicht. Es schadet daher nicht, die zu begrabenden Träume genau unter die Lupe zu nehmen. Ein erwachsener Mensch tut gut daran, der allgegenwärtigen und sehr pauschalen Aufforderung, dass man seine Träume leben soll, etwas Realitätssinn entgegenzusetzen.
    Die Übung »Diese Trauben sind mir eh zu sauer« hilft gegen Neidgefühle und unnötige Gewissensbisse, und man schärft mit ihr den Blick auf die Dinge. Alles hat schließlich unbestreitbar seine Nachteile.
    Mit etwas Gründlichkeit kann sich jeder die Lust auf Karriere und ein gutes Gehalt austreiben:
    – Wer beruflich durchstarten will, hat kaum mehr Zeit für Freunde und Familie.
    – Als Politiker muss man ständig wildfremden Menschen Rede und Antwort stehen und selbst bei den unsinnigsten Vorwürfen freundlich bleiben, sonst wird man nicht wiedergewählt.
    – Hat man eine gewisse Medienpräsenz, wird jedes Stottern, jede Ungelenktheit und jede doofe Frisur kommentiert, und man muss so tun, als würde man dies nicht bemerken.
    – Als Berühmtheit kann man niemals in Ruhe einkaufen oder einen Kaffee am Marktplatz trinken, ohne dass man angestarrt wird.
    – Eigentumswohnungen ziehen grauenhafte Eigentümerversammlungen nach sich.
    – Verdient man sehr viel Geld, muss dieses Geld verwaltet werden, was wiederum eine Menge Arbeit und schwierige Entscheidungen nach sich zieht.
HOHE ANSPRÜCHE MACHEN ARM
    1952 drehte der Regisseur Guiseppe de Santis den Film »Es geschah Punkt 11«. Die Geschichte dieses Films geht auf eine wahre Begebenheit zurück: Rom Anfang der Fünfzigerjahre, die Arbeitslosigkeit ist hoch. Wir sehen drei junge Frauen, die eine Anzeige in der Zeitung lesen: Eine Stenotypistin in einer Rechtsanwaltskanzlei wird gesucht. Die Frauen machen sich auf den Weg, eine muss sich für das Vorstellungsgespräch sogar noch Schuhe von ihrer Schwester leihen, denn sie hat keine eigenen. Die Dritte wird von ihrem Freund begleitet, auch er arbeitslos; er bringt sie bis an die Ecke, sodass sie nicht mit ihm zusammen gesehen wird, und wünscht ihr viel Glück. Als die Frauen an der genannten Adresse ankommen, sehen sie eine lange Schlange vor dem Haus. Über zweihundert Bewerberinnen warten darauf, zum Rechtsanwalt im vierten Stock vorgelassen zu werden. Im Treppenhaus streiten die Frauen um die ersten Plätze. Nur eine Handvoll Mädchen wird der Anwalt überhaupt zum Vorstellungsgespräch hereinbitten, so erfahren die drei Frauen von den Wartenden. Obwohl es aussichtslos ist, stellen sich die drei Frauen in der Schlange an. Und nach ihnen kommen weitere und drängeln und schubsen von hinten. Die schon beim Rechtsanwalt waren, kämpfen sich ihren Weg durch die Menge nach unten. Nach einer Dreiviertelstunde stehen die drei Frauen endlich im Erdgeschoss des Hauses. Ein Gehilfe des Anwalts ruft den Mädchen zu, dass sie nach Hause gehen können, denn viele Stenotypistinnen werde man sich nicht mehr ansehen. Keine der Frauen verlässt ihren Platz. Schließlich geschieht das Unglück: Unter dem Gewicht der Wartenden bricht das Treppenhaus zusammen. Ein halbes Dutzend der Mädchen kommen in den Trümmern zu Tode, viele werden schwer verletzt.
    Die Frauen im Film waren verzweifelt. Auch wenn es bei der Menge der Bewerberinnen aussichtslos ist, die Stelle zu bekommen, stellen sie sich in der Schlange an und boxen ihre Konkurrentinnen fort. Und riskieren am Ende ihr Leben.
    Man stellt sich als Zuschauer die Frage, ob man sich selbst in die viel zu lange Warteschlange eingereiht hätte. Hätte es nicht einen anderen Weg für diese jungen Frauen gegeben, ihre Not

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