Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
Schulfotos, das Dreirad. Sie waren alle da, genau, wie ich sie in meinem Tagebuch beschrieben hatte.
Ich nahm sie alle heraus und breitete sie auf dem Boden aus, sah mir dabei jedes an. Es waren auch Fotos von mir und Ben dabei. Eines, auf dem wir vor den Houses of Parliament posieren; wir lächeln beide, stehen aber irgendwie unbeholfen da, als ob keiner von uns beiden weiß, dass der andere existiert. Ein weiteres, von unserer Hochzeit, in Positur gestellt. Wir stehen vor einer Kirche unter einem bedeckten Himmel. Wir sehen glücklich aus, lächerlich glücklich, und sogar noch glücklicher auf einem, das offenbar später aufgenommen worden war, in unseren Flitterwochen. Wir sitzen in einem Restaurant, lächeln, beugen uns über halbvolle Teller, unsere Gesichter gerötet von Liebe und zu viel Sonne.
Ich starrte auf das Foto. Erleichterung durchflutete mich allmählich. Ich sah die Frau an, die da mit ihrem frisch angetrauten Mann saß, in eine Zukunft schaute, die sie nicht vorhersagen konnte und wollte, und überlegte, wie viel ich mit ihr gemeinsam habe. Nur Physisches. Zellen und Gewebe. DNA . Unsere chemische Signatur. Aber sonst nichts. Sie ist eine Fremde. Nichts verbindet sie mit mir, kein Faden führt mich zurück zu ihr.
Dennoch, sie ist ich, und ich bin sie, und ich konnte sehen, dass sie verliebt ist. In Ben. Den Mann, den sie gerade geheiratet hat. Den Mann, neben dem ich noch immer aufwache, jeden Tag. Er hat das Gelübde nicht gebrochen, das er an dem Tag in der kleinen Kirche in Manchester ablegte. Er hat mich nicht im Stich gelassen. Ich betrachtete das Foto, und Liebe wallte wieder in mir auf.
Aber trotzdem legte ich es hin und suchte weiter. Ich wusste, was ich finden wollte und wovor mir graute. Die eine Sache, die beweisen würde, dass mein Mann mich nicht belog, die mir meinen Partner zurückgeben und mir zugleich meinen Sohn für immer wegnehmen würde.
Ich fand sie. Ganz unten in der Schatulle, in einem Kuvert. Eine Fotokopie von einem Zeitungsartikel, gefaltet, an den Rändern brüchig. Ich wusste, was mich erwartete, ehe ich ihn auseinandergefaltet hatte, aber ich zitterte dennoch, als ich die ersten Zeilen las.
Das Verteidigungsministerium hat den Namen des britischen Soldaten bekanntgegeben, der während einer Patrouille in der Provinz Helmand einem Bombenanschlag zum Opfer fiel. Adam Wheeler
, stand da,
war 19 Jahre alt. In London geboren …
Mit einer Büroklammer war ein Foto daran befestigt. Blumen, auf einem Grab ausgebreitet. Die Inschrift lautete,
Adam Wheeler, 1987 – 2006
.
Mit einem Mal traf mich die Trauer mit voller Wucht, stärker, als ich sie für möglich gehalten hätte. Ich ließ den Zeitungsausschnitt fallen und krümmte mich vor Schmerz, der selbst für Tränen zu stark war, und ich stieß einen Laut aus, der wie Heulen klang, wie ein verwundetes Tier, das halb verhungert sein Ende herbeisehnt. Ich schloss die Augen, und plötzlich sah ich es. Ein kurzer Erinnerungsblitz. Ein flimmerndes Bild, das vor mir schwebte. Ein Orden, der mir in einem schwarzen Samtkästchen übergeben wird. Ein Sarg, eine Fahne. Ich wandte den Blick ab und betete, dass das Bild nie wiederkommen würde. Es gibt Erinnerungen, ohne die ich besser leben kann. Dinge, die besser für immer verschwinden.
Ich begann, die Papiere wieder einzuräumen. Ich hätte ihm vertrauen sollen, dachte ich. Die ganze Zeit. Ich hätte glauben sollen, dass er mir manche Dinge nur deshalb vorenthält, weil es zu schmerzhaft ist, sich ihnen jeden Tag aufs Neue zu stellen. Er wollte mich bloß hiervor schonen. Vor der grausamen Wahrheit. Ich legte die Fotos zurück, alles so, wie ich es vorgefunden hatte. Ich fühlte mich beruhigt. Ich legte den Schlüssel zurück in die Nachttischschublade, stellte die Schatulle wieder in den Aktenschrank. Ich kann sie jetzt hervorholen, wann ich will, und mir alles anschauen, dachte ich. So oft ich will.
Es gab nur noch eines, was ich tun musste. Ich musste wissen, warum Ben mich verlassen hatte. Und ich musste wissen, was ich in Brighton gemacht hatte, vor all den Jahren. Ich musste wissen, wer mir mein Leben gestohlen hatte. Ich musste es noch einmal versuchen.
Zum zweiten Mal an diesem Tag wählte ich Claires Nummer.
Rauschen. Stille. Dann ein Rufton. Sie geht nicht ran, dachte ich. Sie hat ja auch nicht auf meine Nachricht reagiert. Sie hat etwas zu verbergen, etwas vor mir zu verheimlichen.
Ich war fast froh. Dieses Gespräch wollte ich am liebsten nur im Geist
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