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Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Titel: Ich. Darf. Nicht. Schlafen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S. J. Watson
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leben kannst, aber dann, von einem Tag auf den anderen …«
    Ich wusste, was sie meinte: Peng! Mein beruflicher Ehrgeiz würde verschwinden, und ich würde nur noch einen Wunsch haben, den nach Kindern. »Mir ist es so ergangen«, sagte sie. »Und dir wird es so ergehen. So ergeht es allen.«
    Aber so war es dann wohl doch nicht gekommen. Oder stattdessen war etwas anderes geschehen. Ich sah meinen Mann an.
    »Ben?«, sagte ich. »Und dann?«
    Er sah mich an und drückte meine Hand.
    »Dann hast du das Gedächtnis verloren«, sagte er.
    Mein Gedächtnis. Letztlich lief alles darauf hinaus. Immer.
    Ich blickte über die Stadt. Die Sonne hing tief am Himmel, schien schwach durch die Wolken, warf lange Schatten aufs Gras. Ich bemerkte, dass es bald dunkel werden würde. Die Sonne würde untergehen, unaufhaltsam. Ein weiterer Tag würde enden. Ein weiterer verlorener Tag.
    »Wir haben keine Kinder bekommen«, sagte ich. Es war keine Frage.
    Er antwortete nicht, wandte sich aber mir zu. Er nahm meine Hände in seine, rieb sie, wie zum Schutz gegen die Kälte.
    »Nein«, sagte er. »Nein. Das haben wir nicht.«
    Trauer durchzog sein Gesicht. Seinetwegen oder meinetwegen? Ich konnte es nicht sagen. Ich ließ ihn meine Hände reiben, meine Finger zwischen seinen halten. Ich merkte, dass ich mich bei aller Verwirrung trotzdem hier sicher fühlte, bei diesem Mann. Ich spürte, dass er gütig ist und rücksichtsvoll und geduldig. Ganz gleich, wie schrecklich meine Situation ist, sie könnte noch viel schlimmer sein.
    »Warum?«, fragte ich.
    Er sagte nichts. Er sah mich an, und der Ausdruck auf seinem Gesicht war voller Schmerz. Schmerz und Enttäuschung.
    »Wie ist es passiert, Ben?«, fragte ich. »Wie bin ich so geworden?«
    Ich merkte, dass er sich verkrampfte. »Willst du das wirklich wissen?«, fragte er.
    Ich richtete den Blick auf ein kleines Mädchen, das in einiger Entfernung auf einem Dreirad fuhr. Ich wusste, dass ich ihm diese Frage bestimmt nicht zum ersten Mal stellte, dass er mir diese Dinge nicht zum ersten Mal erklären musste. Möglicherweise frage ich ihn das jeden Tag.
    »Ja«, sagte ich und dachte, dass es diesmal anders ist. Dass ich diesmal alles aufschreiben werde, was er mir erzählt.
    Er holte tief Luft. »Es war Dezember. Eisig kalt. Du warst tagsüber unterwegs gewesen, hast gearbeitet. Du warst auf dem Heimweg, eine kurze Strecke zu Fuß. Es gab keine Zeugen. Wir wissen nicht, ob du gerade die Straße überqueren wolltest oder ob der Wagen, der dich erfasste, auf den Bürgersteig geriet, aber so oder so musst du über die Motorhaube geflogen sein. Du warst schwer verletzt. Hattest beide Beine gebrochen. Einen Arm und das Schlüsselbein.«
    Er hielt inne. Ich hörte den tiefen Rhythmus der Stadt. Autoverkehr, ein Flugzeug über uns, das Raunen des Windes in den Bäumen. Ben drückte meine Hand.
    »Sie haben gesagt, du musst mit dem Kopf zuerst aufgeschlagen sein, dass du deshalb das Gedächtnis verloren hast.«
    Ich schloss die Augen. Ich konnte mich überhaupt nicht an den Unfall erinnern, daher empfand ich keine Wut, nicht mal Empörung. Stattdessen wurde ich von einer Art stiller Trauer erfasst. Einer Leere. Ein schwaches Kräuseln auf der glatten Fläche des Sees der Erinnerung.
    Er drückte meine Hand, und ich legte meine auf seine, spürte das kalte harte Metall seines Eherings. »Du hattest Glück, dass du überhaupt überlebt hast«, sagte er.
    Ich fühlte, wie mir kalt wurde. »Was war mit dem Fahrer?«
    »Er hat nicht angehalten. Fahrerflucht. Wir wissen nicht, wer dich überfahren hat.«
    »Aber wer macht so was?«, sagte ich. »Wer fährt jemanden über den Haufen und haut einfach ab?«
    Er sagte nichts. Ich wusste nicht, was ich erwartet hatte. Ich dachte daran, was ich über meine Sitzungen bei Dr. Nash gelesen hatte.
Ein neurologisches Problem
, hatte er mir erklärt.
Strukturell oder chemisch. Eine hormonelle Störung
. Ich hatte gedacht, er hätte eine Krankheit gemeint, etwas, das einfach geschehen war, wie aus dem Nichts.
Schicksal eben
.
    Doch das hier kam mir schlimmer vor. Es war mir von jemandem angetan worden, es war vermeidbar gewesen. Wenn ich oder der Fahrer des Unfallwagens an jenem Abend einen anderen Weg gewählt hätten, wäre ich noch immer normal. Vielleicht wäre ich inzwischen sogar schon Großmutter, knapp.
    »Warum?«, sagte ich. »Warum?«
    Es war keine Frage, die er beantworten konnte, und so sagte Ben nichts. Wir saßen eine Weile schweigend da, unsere

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