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Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Titel: Ich. Darf. Nicht. Schlafen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S. J. Watson
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Sie wirkte friedlich. Und kleiner, als ich gedacht hatte. Ich konnte sehr weit sehen, bis zu niedrigen Hügeln in der Ferne. Ich konnte die schlanke Nadel des Telecom Tower sehen, die Kuppel von Saint Paul’s, das Kraftwerk in Battersea, Umrisse, die ich erkannte, wenngleich schwach und ohne zu wissen, warum. Es gab auch noch andere, weniger vertraute Orientierungspunkte: ein Gebäude aus Glas, das aussah wie eine dicke Zigarre, ganz weit weg ein Riesenrad. Die Aussicht kam mir fremd und vertraut zugleich vor, wie mein eigenes Gesicht.
    »Ich hab das Gefühl, dass ich das alles hier wiedererkenne«, sagte ich.
    »Ja«, sagte Ben. »Ja. Wir kommen schon seit einer ganzen Weile hierher, aber die Aussicht verändert sich ständig.«
    Wir gingen weiter. Auf den meisten Bänken saßen Leute, allein oder paarweise. Eine knapp unterhalb der Kuppe war leer, und wir setzten uns. Ich roch Ketchup; ein halbaufgegessener Hamburger lag unter der Bank in einer Kartonverpackung.
    Ben hob sie vorsichtig auf und warf sie in einen Mülleimer, dann kam er zurück und setzte sich wieder neben mich. »Das da hinten ist Canary Wharf«, sagte er und deutete auf ein Gebäude, das selbst auf diese Entfernung ungeheuer hoch aussah. »Es wurde in den frühen Neunzigern gebaut, glaube ich. Da sind lauter Büros drin und so.«
    Die Neunziger. Es war seltsam, ein ganzes Jahrzehnt, das ich durchlebt hatte, aber an das ich mich nicht erinnern konnte, in so einem knappen Wort zusammengefasst zu hören. Wie viel ich verpasst haben musste. Wie viel Musik, wie viele Filme und Bücher, wie viele Nachrichten. Katastrophen, Tragödien, Kriege. Ganze Länder konnten auseinandergefallen sein, während ich blind von einem Tag zum nächsten taumelte.
    Und wie viel von meinem eigenen Leben. So viele Dinge, die ich nicht erkenne, obwohl ich sie jeden Tag gesehen habe.
    »Ben?«, sagte ich. »Erzähl mir von uns.«
    »Uns?«, sagte er. »Was meinst du?«
    Ich wandte mich ihm zu. Der Wind wehte den Hang herauf, blies mir kalt ins Gesicht. Irgendwo bellte ein Hund. Ich wusste nicht, wie viel ich sagen sollte; er weiß, dass ich keinerlei Erinnerung an ihn habe.
    »Es tut mir leid«, sagte ich. »Aber ich weiß nichts über dich und mich. Ich weiß nicht mal, wo und wie wir uns kennengelernt oder wann wir geheiratet haben, gar nichts.«
    Er lächelte und rückte auf der Bank ganz nah an mich heran, so dass wir uns berührten. Er legte einen Arm um meine Schultern. Ich zuckte instinktiv zurück, doch dann fiel mir ein, dass er kein Fremder ist, sondern der Mann, den ich geheiratet habe. »Was möchtest du wissen?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Wie haben wir uns kennengelernt?«
    »Tja, wir waren beide an der Uni«, sagte er. »Du hattest gerade mit deiner Dissertation angefangen. Erinnerst du dich?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nicht richtig. Was hab ich studiert?«
    »Englische Literatur«, sagte er, und ein Bild blitzte vor mir auf, schnell und glasklar. Ich sah mich in einer Bibliothek sitzen und erinnerte mich an diffuse Ideen, eine Dissertation über feministische Theorie und die Literatur des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zu schreiben, obwohl das im Grunde bloß ein Projekt war, an dem ich arbeiten konnte, wenn ich nicht meine Romane schrieb, etwas, das meine Mutter zwar nicht verstehen, aber doch für seriös halten würde. Die Szene schwebte mir einen Moment vor Augen, schimmernd, so real, dass ich sie fast berühren konnte, doch dann sprach Ben weiter, und sie verschwand.
    »Ich hab Chemie studiert«, sagte er. »War kurz vor’m Diplom. Ich hab dich ständig gesehen. In der Bibliothek, der Unikneipe, überall. Ich war immer ganz hin und weg, weil du so schön warst, aber ich hatte nie den Mut, dich anzusprechen.«
    Ich lachte. »Ehrlich?« Ich konnte mir nicht vorstellen, auf jemanden einschüchternd zu wirken.
    »Du kamst mir immer so selbstbewusst vor. Und ehrgeizig. Du konntest stundenlang dasitzen, umgeben von Büchern, und immer nur lesen, dir Notizen machen und zwischendurch mal einen Schluck Kaffee oder sonst was trinken. Du sahst so schön aus. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass du dich für mich interessieren würdest. Aber eines Tages saß ich zufällig in der Bibliothek neben dir, und du hast deinen Becher umgestoßen, und von deinem Kaffee ist ein bisschen was über meine Bücher geschwappt. Du hast dich tausendmal entschuldigt, obwohl es nicht der Rede wert war, und wir haben alles aufgewischt, und dann hab ich darauf

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