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Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Titel: Ich. Darf. Nicht. Schlafen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S. J. Watson
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waren, und die Spannung verflog. Ich wartete ab, bis er leise schnarchte, dann schlüpfte ich aus dem Bett und setzte mich hier in das Gästezimmer, um alles aufzuschreiben.
    Ich würde mich so gern an ihn erinnern. Nur ein Mal.

Montag, 12. November
    Die Uhr hat gerade vier geschlagen, es wird allmählich dunkel. Ben kann eigentlich noch nicht nach Hause kommen, doch während ich hier sitze und schreibe, lausche ich auf sein Auto. Der Schuhkarton steht auf dem Boden neben meinen Füßen, das Seidenpapier, in das das Tagebuch eingewickelt war, hängt heraus. Wenn er kommt, werde ich mein Buch im Kleiderschrank verstauen und sagen, ich hätte mich etwas hingelegt. Es ist gelogen, aber nicht sehr, und es ist nicht falsch, dass ich den Inhalt meines Tagebuchs geheim halten will. Ich muss aufschreiben, was ich gesehen habe. Was ich erfahren habe. Was aber nicht heißt, dass jemand – irgendwer – außer mir es lesen sollte.
    Ich habe mich heute mit Dr. Nash getroffen. Wir saßen einander gegenüber, sein Schreibtisch zwischen uns. Hinter ihm ein Aktenschrank, auf dem das Glasmodell eines Gehirns stand, in der Mitte durchtrennt, aufgeklappt wie eine Orange. Er fragte mich, wie es mir ergangen sei.
    »So einigermaßen«, sagte ich. »Glaube ich jedenfalls.« Die Frage war schwer zu beantworten – die wenigen Stunden seit dem Aufwachen an diesem Morgen waren die einzigen, an die ich mich deutlich erinnern konnte. Ich lernte meinen Mann kennen, als wäre es die erste Begegnung, obwohl ich wusste, dass dem nicht so war, wurde von meinem Arzt angerufen, der mir von meinem Tagebuch erzählte. Dann, am frühen Nachmittag, holte er mich ab und fuhr mit mir in seine Praxis.
    »Ich hab in mein Tagebuch geschrieben«, sagte ich. »Nach Ihrem Anruf. Am Samstag.«
    Er wirkte erfreut. »Meinen Sie, es hat ein kleines bisschen geholfen?«
    »Ich denke schon«, sagte ich. Ich erzählte ihm von den Erinnerungen, die ich gehabt hatte. Von meiner Vision mit der Frau auf der Party, wie ich von der Krankheit meines Vaters erfuhr. Während ich sprach, machte er sich Notizen.
    »Erinnern Sie sich jetzt immer noch an diese Dinge?«, fragte er. »Oder haben Sie sich daran erinnert, als Sie heute Morgen aufgewacht sind?«
    Ich zögerte. Die Antwort war nein. Oder dass ich mich nur an einiges davon erinnerte. Am Morgen hatte ich meinen Eintrag vom Samstag gelesen – über das gemeinsame Frühstück mit meinem Mann, über den Ausflug zum Parliament Hill. Alles hatte so unwirklich auf mich gewirkt, wie irgendein Roman, als hätte es nichts mit mir zu tun, und ich merkte, dass ich denselben Abschnitt wieder und wieder las, dass ich versuchte, ihn in meinen Kopf einzuzementieren, ihn zu verfestigen. Letztendlich brauchte ich über eine Stunde dafür.
    Ich las, was Ben mir erzählt hatte, wie wir uns kennengelernt und geheiratet hatten, wie wir lebten, und ich empfand nichts. Anderes dagegen blieb haften. Die Frau, zum Beispiel. Meine Freundin. Ich konnte mir keine Einzelheiten ins Gedächtnis rufen – die Party mit dem Feuerwerk, mit ihr zusammen auf dem Dach gewesen zu sein, einen Mann namens Keith zu treffen –, aber die Erinnerung an sie bestand in mir fort, und heute Morgen, als ich meinen Eintrag von Samstag las, waren weitere Details aufgetaucht. Das leuchtende Rot ihrer Haare, die schwarzen Klamotten, die sie am liebsten trug, der Nietengürtel, der scharlachrote Lippenstift, die Art, wie sie rauchte, als wäre es das Coolste auf der Welt. Ihr Name wollte mir nicht einfallen, aber jetzt erinnerte ich mich an den Abend, an dem wir uns kennenlernten, in einem Raum, der mit dickem Zigarettenqualm vernebelt war und der vom Klingeln und Klackern der Flipperautomaten und dem blechernen Gedudel aus der Musikbox vibrierte. Sie hatte mir Feuer gegeben, als ich sie darum bat, und dann ihren Namen genannt und vorgeschlagen, ich sollte mit rüber zu ihren Freunden kommen. Wir tranken Wodka und Bier, und später, als ich das meiste davon wieder auskotzte, hielt sie meine Haare aus der Kloschüssel. »Ich schätze, jetzt sind wir definitiv Freundinnen«, sagte sie lachend, als ich wieder auf die Beine kam. »So was mach ich nämlich längst nicht für jeden, weißt du?«
    Ich dankte ihr, und aus mir unerfindlichen Gründen, als wäre es eine Erklärung für das, was ich gerade getan hatte, erzählte ich ihr, dass mein Vater tot war. »Scheiße …«, sagte sie und mit einem ersten von offenbar vielen Umschwüngen von betrunkener Albernheit zu

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