Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
Ich kann mir die Person nicht vorstellen, mir nicht ausmalen, wie sie aussieht. Es ist, als würde es sie gar nicht geben.«
Er blickte enttäuscht. »Sehen Sie das so?«, fragte er. »Dass Ihr Leben zerstört wurde?«
»Ja«, sagte ich nach ein paar Augenblicken. »Ja. Das sehe ich so.« Er schwieg. »Stimmt das denn nicht?«
Ich weiß nicht, welche Reaktion, welche Erwiderung ich von ihm erwartete. Ich schätze, ein Teil von mir wollte, dass er mir sagte, wie sehr ich mich irre, dass er versuchen würde, mir einzureden, dass mein Leben lebenswert ist. Aber er tat es nicht. Er sah mich nur offen an. Ich bemerkte, wie auffallend seine Augen sind. Blau mit grauen Einsprengseln.
»Es tut mir leid, Christine«, sagte er. »Es tut mir leid. Aber ich tue alles, was ich kann, und ich denke, ich kann Ihnen helfen. Das denke ich wirklich. Das müssen Sie mir glauben.«
»Das tue ich«, sagte ich. »Das tue ich.«
Er legte seine Hand auf meine, die zwischen uns auf dem Schreibtisch lag. Sie fühlte sich schwer an. Warm. Er drückte meine Finger, und eine Sekunde lang war ich peinlich berührt, seinetwegen, aber auch meinetwegen, doch dann blickte ich ihm ins Gesicht, sah den traurigen Ausdruck darin und begriff, dass hier ein junger Mann eine ältere Frau tröstete. Mehr nicht.
»Entschuldigung«, sagte ich. »Ich muss mal zur Toilette.«
Als ich zurückkam, hatte er Kaffee eingeschenkt, und wir setzten uns wieder vor beziehungsweise hinter den Schreibtisch, nippten an unseren Tassen. Er schien den Blickkontakt mit mir zu vermeiden und blätterte stattdessen die Papiere auf seinem Tisch durch, schob sie linkisch hin und her. Zuerst dachte ich, er wäre verlegen, weil er meine Hand gedrückt hatte, doch dann sah er auf und sagte: »Christine. Ich möchte Sie etwas fragen. Zweierlei, eigentlich.« Ich nickte. »Erstens, ich habe beschlossen, Ihren Fall zu veröffentlichen. Er ist für mein Fachgebiet recht ungewöhnlich, und ich denke, es wäre wirklich von Vorteil, die Einzelheiten einem größeren wissenschaftlichen Kreis zugänglich zu machen. Haben Sie etwas dagegen?«
Ich betrachtete die Fachzeitschriften, die unordentlich gestapelt in den Regalen ringsherum lagen. Wollte er so seine Karriere vorantreiben oder seine Position sichern?
Bin ich deshalb hier?
Einen Moment lang erwog ich, ihm zu sagen, dass es mir lieber wäre, wenn er meine Geschichte nicht für seine Zwecke nutzte, doch letzten Endes schüttelte ich nur den Kopf und sagte: »Nein. Das geht in Ordnung.«
Er lächelte. »Gut. Vielen Dank. Und jetzt hab ich eine Frage. Eigentlich eher einen Vorschlag. Ich möchte etwas ausprobieren. Wären Sie einverstanden?«
»Woran dachten Sie?«, fragte ich. Ich war nervös, aber auch erleichtert, weil er mir endlich sagen würde, was in ihm vorging.
»Also«, sagte er. »Aus Ihren Akten geht hervor, dass Sie und Ben nach der Hochzeit weiter in Ihrer gemeinsamen Wohnung in Ostlondon lebten.« Er stockte. Wie aus dem Nichts kam eine Stimme, die die meiner Mutter sein musste.
In Sünde leben
– ein Zungenschnalzen, ein Kopfschütteln. »Und dann, nach etwa einem Jahr, sind Sie in ein Haus gezogen. Dort wohnten Sie praktisch, bis Sie in die Klinik kamen.« Wieder ein Stocken. »Es liegt gar nicht weit von Ihrem jetzigen Haus entfernt.« Allmählich begriff ich, worauf er hinauswollte. »Ich dachte, wir könnten jetzt gleich dahin fahren, es uns ansehen, auf dem Weg zu Ihnen. Was halten Sie davon?«
Was ich davon hielt? Ich wusste es nicht. Es war eine Frage, die fast unmöglich zu beantworten war. Ich wusste, dass es Sinn ergab, dass es mir auf irgendeine undefinierbare Weise helfen könnte, die bislang keiner von uns verstand, aber dennoch sträubte sich etwas in mir. Es war, als wäre meine Vergangenheit plötzlich irgendwie gefährlich. Ein Ort, den man besser nicht aufsuchte.
»Ich weiß nicht«, sagte ich.
»Sie haben dort etliche Jahre gelebt«, sagte er.
»Ich weiß, aber –«
»Wir können einfach hinfahren und es uns ansehen. Wir müssen nicht reingehen.«
»Reingehen?«, echote ich. »Wie –«
»Ja«, sagte er. »Ich hab den Leuten, die jetzt dort wohnen, einen Brief geschrieben. Wir haben telefoniert. Sie meinten, wenn es vielleicht helfen könnte, würden sie Ihnen gern die Möglichkeit geben, sich ein wenig umzusehen.«
Das überraschte mich. »Ehrlich?«, fragte ich.
Er blickte leicht zur Seite – nur kurz, aber es genügte, um als Verlegenheit rüberzukommen. Ich fragte mich, was
Weitere Kostenlose Bücher