Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Titel: Ich. Darf. Nicht. Schlafen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S. J. Watson
Vom Netzwerk:
mitfühlendem Zupacken nahm sie mich mit auf ihr Zimmer, und wir aßen Toast und tranken schwarzen Kaffee, hörten dabei Platten und sprachen über unser Leben, bis es draußen hell wurde.
    An den Wänden ihres Zimmers und am Fußende des Bettes lehnten Gemälde, und Skizzenbücher waren im ganzen Raum verteilt. »Bist du Künstlerin?«, fragte ich, und sie nickte. »Deshalb bin ich hier an der Uni«, sagte sie. Ich erinnerte mich, dass sie gesagt hatte, sie studiere Kunst. »Natürlich werde ich als Lehrerin enden, aber bis dahin darf der Mensch ja noch träumen. Oder?« Ich lachte. »Was ist mit dir? Was studierst du?« Ich sagte es ihr. Englische Literatur. »Und was willst du mal machen? Romane schreiben oder unterrichten?« Sie lachte, nicht gehässig, aber ich erzählte ihr trotzdem nichts von der Kurzgeschichte, an der ich auf meinem Zimmer gearbeitet hatte, ehe ich nach unten gekommen war. »Keine Ahnung«, sagte ich stattdessen. »Wahrscheinlich wird’s mir genauso gehen wie dir.« Sie lachte wieder und sagte: »Tja, dann auf uns!«, und als wir uns mit Kaffee zuprosteten, hatte ich zum ersten Mal seit Monaten das Gefühl, dass vielleicht doch noch alles gut werden würde.
    Ich erinnerte mich an das alles. Die Willensanstrengung, das Vakuum meines Gedächtnisses zu durchforsten, nach irgendwelchen winzigen Details zu suchen, die eine Erinnerung auslösen würden, erschöpfte mich. Doch die Erinnerungen an das Leben mit meinem Mann? Sie waren offenbar unwiederbringlich verloren. Als ich diese Worte las, hatte sich nicht mal das kleinste Rudiment einer Erinnerung geregt. Es war, als wäre nicht bloß der Ausflug zum Parliament Hill nie passiert, sondern auch alles, was mein Mann mir dort erzählt hatte.
    »Ich erinnere mich an manche Dinge«, sagte ich zu Dr. Nash. »Dinge aus der Zeit, als ich jünger war, Dinge, die mir gestern eingefallen sind. Die sind noch da. Und ich erinnere mich sogar an weitere Details. Aber ich weiß absolut nicht mehr, was wir gestern gemacht haben. Oder am Samstag. Ich kann versuchen, ein Bild der Szene zu rekonstruieren, die ich im Tagebuch beschrieben habe, aber ich weiß, dass es keine Erinnerung ist. Ich weiß, ich stelle es mir nur vor.«
    Er nickte. »Haben Sie irgendeine Erinnerung an vorgestern? Irgendeine Kleinigkeit, die Sie aufgeschrieben haben und die Ihnen wieder einfällt? Von dem Abend zum Beispiel?«
    Ich dachte daran, was ich über die Situation nach dem Zubettgehen geschrieben hatte. Ich merkte, dass ich mich schuldig fühlte. Schuldig, weil ich trotz seiner Güte nicht in der Lage gewesen war, mit meinem Mann zu schlafen. »Nein«, log ich. »Nichts.«
    Ich fragte mich, was er hätte anders machen können, damit ich den Wunsch verspürt hätte, ihn in die Arme zu nehmen, mich ihm hinzugeben. Blumen? Pralinen? Muss er jedes Mal, wenn er Sex will, romantische Annäherungsversuche machen, als wäre es das erste Mal? Ich begriff, wie verschlossen die Wege der Verführung für ihn sind. Er kann nicht mal den ersten Song spielen, zu dem wir auf unserer Hochzeit getanzt haben, oder mit mir noch einmal in das Restaurant gehen, in dem wir das erste Mal zusammen aus essen waren, weil beides für mich keine Bedeutung mehr hat. Und außerdem bin ich seine Frau; er sollte mich nicht jedes Mal, wenn er mit mir schlafen will, verführen müssen, als wäre es das erste Mal.
    Aber kommt es überhaupt je dazu, dass ich ihn mit mir schlafen lasse oder vielleicht sogar selber mit ihm schlafen will? Wache ich je auf und weiß genug, um Begehren zu empfinden, unaufgefordert?
    »Ich erinnere mich überhaupt nicht an Ben«, sagte ich. »Heute Morgen hatte ich keine Ahnung, wer er war.«
    Dr. Nash nickte. »Möchten Sie das gerne?«
    Fast hätte ich gelacht. »Natürlich!«, sagte ich. »Ich möchte mich an meine Vergangenheit erinnern. Ich möchte wissen, wer ich bin. Wen ich geheiratet habe. Das gehört alles dazu –«
    »Natürlich«, sagte er. Er zögerte, stützte dann die Ellbogen auf den Schreibtisch und verschränkte die Hände vor dem Gesicht, als überlege er sorgfältig, was er sagen wollte oder wie er es sagen sollte. »Was Sie mir erzählt haben, ist sehr ermutigend. Es deutet darauf hin, dass die Erinnerungen nicht völlig verloren sind. Das Problem ist also nicht das Speichern, sondern der Zugriff.«
    Ich dachte kurz nach und sagte dann: »Sie meinen, meine Erinnerungen sind da, ich komm bloß nicht an sie ran?«
    Er lächelte. »Wenn Sie so wollen«, sagte er.

Weitere Kostenlose Bücher