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Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Titel: Ich. Darf. Nicht. Schlafen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S. J. Watson
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dass mein Verstand allmählich aufhörte zu arbeiten, sich leerte, sich ins Nichts flüchtete. »Ich hab ihn nicht mal gekannt.«
     
    Später holte Ben eine Schatulle von oben und stellte sie vor uns auf den Couchtisch.
    »Die bewahre ich oben auf«, sagte er. »Zur Sicherheit.«
    Vor was?
, dachte ich. Die Schatulle war grau, aus Metall. So eine, in der man Geld aufbewahrt oder wichtige Dokumente.
    Was immer sie enthielt, es musste gefährlich sein. Ich stellte mir wilde Tiere vor, Skorpione und Schlangen, hungrige Ratten, giftige Kröten. Oder ein unsichtbarer Virus, irgendetwas Radioaktives.
    »Zur Sicherheit?«, sagte ich.
    Er seufzte. »Es gibt ein paar Dinge, die du nicht sehen solltest, wenn du allein bist«, sagte er. »Dinge, die ich dir besser erkläre.«
    Er setzte sich neben mich und öffnete die Schatulle. Ich sah nur lauter Papiere darin.
    »Das ist Adam als Baby«, sagte er, nachdem er eine Handvoll Fotos herausgenommen hatte, und reichte mir eins.
    Es war ein Foto von mir, auf einer Straße. Ich gehe auf die Kamera zu, mit einem Baby – Adam – in einem Tragetuch vor der Brust. Sein Körper ist mir zugewandt, doch er schaut über die Schulter zu der Person, die das Foto macht, das Lächeln auf seinem Gesicht ein zahnloses Pendant zu meinem.
    »Hast du das gemacht?«
    Ben nickte. Ich sah es mir wieder an. Es war eingerissen, mit Flecken an den Rändern, die Farben verblasst, als würde es langsam ausbleichen.
    Ich. Ein Baby. Es kam mir nicht real vor. Ich versuchte, mir zu sagen, dass ich eine Mutter war.
    »Wann war das?«, fragte ich.
    Ben blickte über meine Schulter. »Da ist er ungefähr sechs Monate alt«, sagte er. »Also, mal überlegen. Das muss dann 1987 gewesen sein.«
    Somit wäre ich siebenundzwanzig gewesen. Das war ein ganzes Leben her.
    Das Leben meines Sohnes.
    »Wann ist er geboren?«
    Er griff wieder in die Schatulle, reichte mir ein Blatt Papier. »Im Januar«, sagte er. Es war vergilbt, brüchig. Eine Geburtsurkunde. Ich las sie schweigend. Sein Name stand da. Adam.
    »Adam Wheeler«, sagte ich laut. Zu mir ebenso wie zu Ben.
    »Wheeler ist mein Nachname«, sagte er. »Wir haben damals entschieden, dass er meinen Namen haben sollte.«
    »Natürlich«, sagte ich. Ich hob das Blatt ans Gesicht. Für ein so bedeutungsvolles Dokument fühlte es sich zu leicht an. Ich wollte es einatmen, es zu einem Teil von mir werden lassen.
    »Bitte«, sagte Ben. Er nahm mir das Blatt aus den Händen und faltete es zusammen. »Es gibt noch mehr Bilder«, sagte er. »Willst du sie sehen?«
    Er reichte mir noch ein paar Fotos.
    »Wir haben nicht mehr so viele«, sagte er, während ich sie mir ansah. »Eine ganze Menge sind verlorengegangen.«
    So wie er das sagte, klang es, als wären sie in Zügen liegen gelassen oder fremden Leuten zur Aufbewahrung gegeben worden.
    »Ja«, sagte ich. »Ich erinnere mich. Bei uns hat es gebrannt.« Ich sagte das, ohne zu überlegen.
    Er blickte mich befremdet an, seine Augen wurden schmal, zusammengekniffen.
    »Daran erinnerst du dich?«, fragte er.
    Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher. Hatte er mir heute Morgen von dem Brand erzählt oder erinnerte ich mich an etwas, was er mir vor ein paar Tagen erzählt hatte? Oder hatte ich es bloß nach dem Frühstück in meinem Tagebuch gelesen?
    »Das hast du mir doch erzählt.«
    »Hab ich das?«, sagte er.
    »Ja.«
    »Wann?«
    Ja, wann? War es heute Morgen gewesen oder schon länger her? Ich dachte an mein Tagebuch, erinnerte mich, es gelesen zu haben, nachdem er zur Arbeit gegangen war. Er hatte mir von dem Brand erzählt, als wir auf der Bank auf dem Parliament Hill saßen.
    Ich hätte ihm in dem Moment von dem Tagebuch erzählen können, aber etwas hielt mich davon ab. Er wirkte keineswegs froh darüber, dass ich mich an etwas erinnert hatte. »Bevor du zur Arbeit gegangen bist?«, sagte ich. »Als wir uns das Album angesehen haben. Bestimmt hast du es dabei erwähnt.«
    Er runzelte die Stirn. Ich fand es furchtbar, ihn anzulügen, aber ich sah mich außerstande, noch mehr Enthüllungen zu verkraften. »Woher soll ich es sonst wissen?«, sagte ich.
    Er sah mich direkt an. »Stimmt.«
    Er hielt einen Moment lang inne, blickte auf den Stoß Fotos in meiner Hand. Es waren erbärmlich wenige, und ich konnte sehen, dass die Schatulle schon fast leer war. Waren diese Fotos wirklich alles, was mir vom Leben meines Sohnes geblieben war?
    »Wie ist das Feuer ausgebrochen?«, fragte ich.
    Die Uhr auf dem Kaminsims schlug.

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