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Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Titel: Ich. Darf. Nicht. Schlafen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S. J. Watson
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»Es ist Jahre her. In unserem alten Haus. Wo wir gewohnt haben, bevor wir hierher gezogen sind.« Ich fragte mich, ob er das Haus meinte, in dem ich mit Dr. Nash gewesen war. »Wir haben viel verloren. Bücher, Papiere. Solche Sachen eben.«
    »Aber wie ist es ausgebrochen?«, fragte ich.
    Einen Moment lang sagte er nichts. Sein Mund öffnete und schloss sich wieder, und dann sagte er: »Es war ein Unfall. Bloß ein Unfall.«
    Ich fragte mich, was er mir nicht erzählte. Hatte ich eine brennende Zigarette vergessen oder ein eingestöpseltes Bügeleisen oder einen Topf auf dem Herd? Ich stellte mir mich in der Küche vor, in der ich am Tag zuvor gewesen war, mit der Betonarbeitsplatte und den weißen Einbauschränken, aber vor Jahren. Ich sah mich vor einer brodelnden Fritteuse stehen, sah, wie ich den Drahtkorb schüttelte, in dem ich Pommes briet, sah, wie sie an die Oberfläche schwebten, ehe sie sich drehten und wieder im Öl versanken. Ich sah, wie ich das Telefon klingeln hörte, mir die Hände an der Schürze abwischte, die ich mir um die Taille gebunden hatte, in die Diele ging.
    Was dann? War das Öl in Brand geraten, während ich telefonierte, oder war ich anschließend ins Wohnzimmer gegangen oder nach oben ins Bad und hatte völlig vergessen, dass ich mit Kochen beschäftigt gewesen war?
    Ich weiß es nicht, werde es niemals wissen. Aber es war lieb von Ben, mir zu sagen, es wäre ein Unfall gewesen. Für jemanden ohne Gedächtnis birgt der Haushalt viele Gefahren, und ein anderer Ehemann hätte mir vielleicht meine Fehler und Unfähigkeiten vorgehalten, hätte der Versuchung erliegen können, seine moralische Überlegenheit zu betonen, und das mit Recht. Ich berührte seinen Arm, und er lächelte.
    Ich sah die Handvoll Fotos durch. Auf einem trug Adam einen Cowboyhut und ein gelbes Halstuch und zielte mit einem Plastikgewehr auf die Person mit der Kamera, und auf einem anderen war er ein bisschen älter; sein Gesicht schmaler, sein Haar schon etwas dunkler. Er trug ein Hemd, das bis zum Hals zugeknöpft war, und eine Kinderkrawatte.
    »Das wurde in der Schule aufgenommen«, sagte Ben. »Ein offizielles Porträt.« Er deutete auf das Foto und lachte. »Sieh mal. Was für ein Jammer. Das Bild ist ruiniert!«
    Das Gummiband der Krawatte war zu sehen, lugte unter dem Kragen hervor. Ich fuhr mit den Fingern über das Foto. Es war nicht ruiniert, dachte ich. Es war perfekt.
    Ich versuchte, mich an meinen Sohn zu erinnern, versuchte, mir vorzustellen, wie ich mit einer Kinderkrawatte vor ihm kniete oder ihm die Haare kämmte oder getrocknetes Blut von einem aufgeschrammten Knie wischte.
    Nichts kam. Der Junge auf dem Foto hatte die gleichen vollen Lippen wie ich und Augen, die vage denen meiner Mutter ähnelten, aber ansonsten hätte er ein fremdes Kind sein können.
    Ben nahm ein weiteres Bild heraus und gab es mir. Auf ihm war Adam ein wenig älter, vielleicht sieben. »Findest du, er sieht mir ähnlich?«, sagte er.
    Er hielt einen Fußball in den Händen, trug Shorts und ein weißes T-Shirt. Sein Haar war kurz und verschwitzt. »Ein bisschen«, sagte ich. »Vielleicht.«
    Ben lächelte, und wir schauten uns weiter die Fotos an. Es waren größtenteils welche von mir und Adam, auf manchen war er allein zu sehen. Ben hatte offenbar die meisten geschossen. Auf einigen war Adam zusammen mit Freunden abgelichtet, zwei zeigten ihn auf einer Kinderparty, als Pirat verkleidet, mit einem Plastikschwert in der Hand. Auf einem trug er einen kleinen schwarzen Hund auf dem Arm.
    Unter den Fotos steckte ein Brief. Er war an den Weihnachtsmann adressiert und mit blauem Buntstift geschrieben. Die wackeligen Buchstaben tanzten über das Blatt. Er wünschte sich ein Fahrrad, schrieb er, oder einen kleinen Hund und versprach, immer brav zu sein. Er hatte ihn unterschrieben und sein Alter hinzugefügt. Sechs.
    Ich weiß nicht, warum, aber als ich das las, schien meine Welt einzustürzen. Trauer explodierte in meiner Brust wie eine Granate. Ich war die ganze Zeit ruhig gewesen – nicht froh, nicht mal resigniert, aber ruhig –, und diese Gefasstheit löste sich in nichts auf, verdampfte förmlich. Darunter war ich roh.
    »Tut mir leid«, sagte ich und gab ihm den Brief und die Fotos zurück. »Ich kann nicht. Nicht jetzt.«
    Er umarmte mich. Ich spürte, wie mir Übelkeit in die Kehle stieg, aber ich schluckte sie herunter. Er sagte, ich solle mir keine Gedanken machen, alles werde gut, und erinnerte mich daran, dass er

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