Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
noch immer anfällig, die Atmosphäre gespannt. Das konnte warten. »Ich spüre es einfach«, sagte ich.
»Das kann gut sein. Ich hab es dir schon mal erzählt.«
Das stimmte natürlich. Er hatte es mir schon mal erzählt. Genau wie Adams Leben. Und doch, so wurde mir klar, fühlte sich die eine Geschichte real an und die andere nicht. Mir wurde klar, dass ich nicht glaubte, dass mein Sohn tot war.
»Erzähl es mir noch einmal«, sagte ich.
Er erzählte mir von dem Krieg, der Bombe am Straßenrand. Ich hörte zu, so ruhig ich konnte. Er sprach von Adams Beerdigung, erzählte mir von den Salutschüssen am Grab, dem Union Jack, der über dem Sarg lag. Ich versuchte, die Erinnerungen mit aller Gewalt heraufzubeschwören, so unerträglich, so grässlich sie auch waren. Doch nichts kam.
»Ich will hingehen«, sagte ich. »Ich will sein Grab sehen.«
»Chris«, sagte er. »Ich weiß nicht …«
Ich begriff, dass ich in Ermangelung von Erinnerungen einen Beweis für seinen Tod sehen musste, sonst würde ich für alle Zeit die Hoffnung hegen, dass er nicht tot war. »Ich will«, sagte ich. »Ich muss.«
Ich dachte, er würde nein sagen. Würde sagen, dass er das für keine gute Idee hielt, dass es mich viel zu sehr mitnehmen würde. Und was sollte ich dann machen? Wie könnte ich ihn zwingen?
Aber er sagte nichts dergleichen. »Wir fahren am Wochenende hin«, sagte er. »Versprochen.«
Eine Mischung aus Erleichterung und Entsetzen betäubte mich regelrecht.
Wir räumten den Tisch ab. Dann stand ich in der Küche an der Spüle, tauchte die Teller, die er mir reichte, in heißes Seifenwasser, wischte sie sauber und reichte sie ihm zum Abtrocknen zurück, und die ganze Zeit mied ich den Blick auf mein Spiegelbild im Fenster. Ich zwang mich, an Adams Beerdigung zu denken, stellte mir vor, wie ich an einem wolkenverhangenen Tag neben einem ausgehobenen Erdhügel auf dem Gras stand und auf einen Sarg blickte, der über dem Loch im Boden schwebte. Ich versuchte, mir die Salutschüsse vorzustellen, den einsamen Trompeter, der spielte, während wir – seine Familie, seine Freunde – lautlos schluchzten.
Aber es gelang mir nicht. Es war noch nicht lange her, und dennoch sah ich nichts. Ich versuchte, mir vorzustellen, was ich empfunden haben musste. Mit Sicherheit war ich an dem Morgen aufgewacht, ohne überhaupt zu ahnen, dass ich Mutter war. Ben musste mich sicherlich zuerst davon überzeugen, dass ich einen Sohn hatte, um mir dann zu offenbaren, dass wir ihn noch am Nachmittag beerdigen würden. Ich stelle mir nicht Entsetzen vor, sondern Gefühllosigkeit, Unglauben. Unwirklichkeit. Es gibt eine Grenze dessen, was ein Verstand ertragen kann, und mit so was wird er ganz sicher nicht fertig, jedenfalls nicht meiner. Ich stellte mir vor, wie mir gesagt wurde, was ich anziehen sollte, wie ich vom Haus zu einem wartenden Wagen geführt, auf die Rückbank gesetzt wurde. Vielleicht fragte ich mich auf der Fahrt, zu wessen Beerdigung wir eigentlich fuhren. Womöglich kam es mir so vor wie zu meiner eigenen.
Ich sah Bens Spiegelung in der Fensterscheibe. Er hatte das alles bewältigen müssen, zu einer Zeit, als seine eigene Trauer am heftigsten war. Es wäre vielleicht erträglicher für uns alle gewesen, wenn er mich gar nicht mit zu der Beerdigung genommen hätte. Mit einem Frösteln fragte ich mich, ob er vielleicht genau das getan hatte.
Ich wusste noch immer nicht, ob ich ihm von Dr. Nash erzählen sollte. Er wirkte jetzt wieder müde, fast niedergeschlagen. Er lächelte nur, wenn ich ihm in die Augen sah und ihn anlächelte. Vielleicht später, dachte ich, obwohl ich nicht wusste, ob es je einen besseren Zeitpunkt geben würde. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass ich für seine Stimmung verantwortlich war, weil ich irgendetwas getan oder nicht getan hatte. Mir wurde klar, wie wichtig mir dieser Mann doch war. Ich konnte nicht sagen, ob ich ihn liebte – das kann ich noch immer nicht –, aber das liegt daran, dass ich eigentlich nicht weiß, was Liebe ist. Trotz der nebulösen, flirrenden Erinnerung, die ich an Adam habe, empfinde ich Liebe für ihn, den instinktiven Drang, ihn zu beschützen, den Wunsch, ihm alles zu geben, das Gefühl, dass er ein Teil von mir ist und ich ohne ihn unvollständig bin. Auch für meine Mutter empfinde ich Liebe, wenn ich sie vor meinem geistigen Auge sehe, aber die ist anders geartet. Es ist eine komplexere Bindung, mit Widersprüchen und Vorbehalten. Eine, die ich nicht
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