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Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Titel: Ich. Darf. Nicht. Schlafen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S. J. Watson
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dem Stift daneben und notierte die Nummer, die er mir nannte. Ich hörte, wie die Badezimmertür aufging, Ben auf den Flur trat.
    »Christine?«, sagte Dr. Nash. »Ich ruf Sie morgen an. Sagen Sie Ben kein Wort. Nicht, solange wir nicht wissen, was los ist. Okay?«
    Ich hörte, wie ich zustimmte, mich verabschiedete. Er erinnerte mich daran, alles in mein Tagebuch zu schreiben, bevor ich schlafen ging. Ich schrieb
Claire
neben die Nummer, wusste noch immer nicht, was ich machen sollte. Ich riss die Ecke mit der Nummer ab und steckte sie in die Handtasche.
    Ich sagte nichts, als Ben nach unten kam, nichts, als er sich mir gegenüber aufs Sofa setzte. Ich richtete den Blick auf den Fernseher. Ein Naturfilm. Über die Bewohner des Meeresbodens. Ein ferngesteuertes Tauchboot erkundete mit ruckeligen Bewegungen einen Unterwassergraben. Zwei Scheinwerfer beleuchteten Orte, die nie zuvor Licht gesehen hatten. Geister in der Tiefe.
    Ich hätte Ben gern gefragt, ob er noch Kontakt zu Claire hatte, aber ich wollte keine Lüge mehr hören. Ein riesiger Krake schwebte in der Dunkelheit, trieb in der sanften Strömung. »Dieses Geschöpf ist nie zuvor gefilmt worden«, sagte die Off-Stimme zu elektronischer Musikuntermalung.
    »Geht es dir gut?«, fragte Ben. Ich nickte, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden.
    Er stand auf. »Ich muss noch was arbeiten«, sagte er. »Oben. Ich komme bald ins Bett.«
    Dann sah ich ihn an. Ich wusste nicht, wer er war.
    »Ja«, sagte ich. »Bis gleich.«

Mittwoch, 21. November
    Ich habe den ganzen Vormittag über dieses Tagebuch gelesen. Aber noch immer nicht alles. Manche Seiten habe ich nur überflogen, andere habe ich wieder und wieder gelesen, versucht, zu glauben, was da stand. Und jetzt bin ich im Schlafzimmer, sitze am Erkerfenster, schreibe weiter.
    Ich habe das Telefon auf dem Schoß. Warum fällt es mir so schwer, Claires Nummer zu wählen? Neuronale Impulse, Muskelkontraktionen. Mehr ist nicht dazu erforderlich. Nichts Kompliziertes. Nichts Schwieriges. Dennoch fällt es mir erheblich leichter, einen Stift zu nehmen und stattdessen drüber zu schreiben.
    Heute Morgen bin ich in die Küche gegangen. Mein Leben, dachte ich, ist auf Treibsand gebaut. Es verändert sich von einem Tag auf den anderen. Dinge, die ich zu wissen meine, sind falsch, Dinge, deren ich mir sicher bin, Fakten meines Lebens, von mir, gehören in eine Zeit, die Jahre zurückliegt. Meine ganze Vergangenheit liest sich wie eine erfundene Geschichte. Dr. Nash. Ben. Adam und jetzt Claire. Sie existieren, aber als Schatten in der Dunkelheit. Wie Fremde kreuzen sie durch mein Leben, stellen Verbindung zu mir her, lösen die Verbindung zu mir auf. Trügerisch, flüchtig. Wie Gespenster.
    Und nicht bloß sie. Alles. Es ist alles erfunden. Aus dem Nichts heraufbeschworen. Ich sehne mich verzweifelt nach festem Boden, nach etwas Realem, nach irgendetwas, das nicht verschwindet, während ich schlafe. Ich muss Halt finden.
    Ich öffnete den Deckel des Abfalleimers. Warme Luft stieg aus ihm auf – die Wärme von Fäulnis und Verfall –, und er stank leicht. Der süßliche, eklige Geruch von faulenden Essensresten. Ich sah eine Zeitung, mit ausgefülltem Kreuzworträtsel, braun durchtränkt von einem einsamen Teebeutel. Ich hielt den Atem an und kniete mich hin.
    In die Zeitung eingewickelt waren Porzellanscherben, Krümel, ein feiner weißer Staub und darunter eine zugeknotete Tragetasche. Ich angelte sie heraus, dachte an schmutzige Windeln, beschloss, sie später aufzureißen, falls erforderlich. Darunter lagen Kartoffelschalen und eine fast leere Plastikflasche, aus der Ketchup quoll. Ich schob beides beiseite.
    Eierschalen – vier oder fünf – und eine Handvoll papierdünne Zwiebelschalen. Die Reste einer entkernten roten Paprikaschote, ein großer Pilz, halb verfault.
    Beruhigt tat ich alles zurück in den Abfalleimer und schloss ihn wieder. Es stimmte. Gestern Abend hatten wir ein Omelett gegessen. Ein Teller war kaputtgegangen. Ich schaute in den Kühlschrank. Zwei Koteletts lagen in einer Styroporschale. In der Diele standen Bens Pantoffeln unten an der Treppe. Alles war da, genauso, wie ich es gestern Abend in mein Tagebuch geschrieben hatte. Ich hatte es nicht erfunden. Es stimmte alles.
    Und das bedeutete, dass das wirklich Claires Telefonnummer war. Dr. Nash hatte mich wirklich angerufen. Ben und ich waren geschieden worden.
    Ich möchte jetzt Dr. Nash anrufen. Ich möchte ihn fragen, was ich machen

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