Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
gelesen.
»Dann wissen Sie, worüber wir gestern gesprochen haben?«, fragte er. Ein Schock durchfuhr mich. Entsetzen. Er hatte also beschlossen, die Sache anzusprechen. Hoffnung keimte in mir auf – vielleicht hatte er ja tatsächlich dasselbe empfunden wie ich, dieselbe Mischung aus Verlangen und Furcht –, doch sie währte nicht lange. »Darüber, zu der Einrichtung zu fahren, in der Sie nach der Psychiatrie untergebracht waren?«, sagte er. »Waring House?«
Ich sagte: »Ja.«
»Also, ich habe heute Morgen da angerufen. Es ist alles klar. Wir können jederzeit kommen.« Die Zukunft. Wieder kam sie mir fast bedeutungslos vor. »In den nächsten zwei Tagen habe ich ziemlich viel zu tun«, sagte er. »Wir könnten am Donnerstag hinfahren.«
»Klingt gut«, sagte ich. Es war mir mehr oder weniger egal, wann wir hinfuhren. Ich versprach mir ohnehin nicht viel davon.
»Schön«, sagte er. »Ich ruf Sie dann an.«
Ich wollte mich schon verabschieden, als mir einfiel, was ich geschrieben hatte, ehe ich eingedöst war. Ich begriff, dass ich nicht tief geschlafen haben konnte, weil ich sonst alles wieder vergessen hätte.
»Dr. Nash?«, sagte ich. »Kann ich kurz mit Ihnen reden?«
»Ja?«
»Über Ben?«
»Selbstverständlich.«
»Tja, also, ich bin einfach durcheinander. Er erzählt mir viele Dinge nicht. Wichtige Dinge. Über Adam. Meinen Roman. Und er belügt mich. Er erzählt mir, dass ich durch einen Autounfall so geworden bin.«
»Okay«, sagte er. Er zögerte einen Moment, sagte dann: »Was glauben Sie, warum er das tut?« Er betonte das
Sie
, nicht das
Warum
.
Ich überlegte kurz. »Er weiß nicht, dass ich mir alles Wichtige notiere. Er weiß nicht, dass ich weiß, wie es wirklich war. Ich schätze, so ist es leichter für ihn.«
»Nur für ihn?«
»Nein. Wohl auch für mich. Zumindest glaubt er das. Aber das stimmt nicht. Es hat bloß zur Folge, dass ich nicht mal weiß, ob ich ihm vertrauen kann.«
»Christine, wir verändern andauernd Tatsachen, schreiben unsere Geschichte neu, um Dinge einfacher zu machen, um sie unserer bevorzugten Version der Ereignisse anzupassen. Wir machen das automatisch. Wir erfinden Erinnerungen. Unbewusst. Wenn wir uns oft genug einreden, dass irgendetwas passiert ist, glauben wir es irgendwann und können uns schließlich sogar richtig dran erinnern. Kann es nicht sein, dass Ben genau das macht?«
»Möglich«, sagte ich. »Aber ich habe das Gefühl, dass er mich ausnutzt. Meine Krankheit ausnutzt. Er denkt, er kann meine Geschichte neu schreiben, wie es ihm passt, ohne dass ich es merke, ohne dass ich es je weiß. Aber ich weiß es. Ich weiß genau, was er macht. Und deshalb vertraue ich ihm nicht. Letzten Endes stößt er mich weg, Dr. Nash. Macht alles kaputt.«
»Also«, sagte er. »Was meinen Sie, können Sie dagegen tun?«
Ich wusste die Antwort bereits. Ich habe meinen Tagebucheintrag von heute Morgen gelesen, wieder und wieder. Dass ich ihm vertrauen sollte. Aber nicht weiß, wie. Und schließlich hatte ich nur einen Gedanken:
So kann es nicht weitergehen.
»Ich muss ihm erzählen, dass ich Tagebuch schreibe«, sagte ich. »Ich muss ihm erzählen, dass ich mich mit Ihnen treffe.«
Er sagte einen Moment lang nichts. Ich weiß nicht, was ich erwartete. Missbilligung? Doch dann sagte er: »Ich glaube, Sie haben recht.«
Erleichterung durchströmte mich. »Ehrlich?«
»Ja«, sagte er. »Ich denke schon seit ein paar Tagen, dass es vielleicht klüger wäre. Ich hatte keine Ahnung, dass sich Bens Version der Vergangenheit so stark von dem unterscheidet, woran Sie sich Stück für Stück wieder erinnern. Keine Ahnung, wie hinderlich das sein könnte. Aber ich finde auch, dass wir bislang eigentlich nur die halbe Wahrheit mitbekommen. Nach dem, was Sie gesagt haben, kommen immer mehr von Ihren verdrängten Erinnerungen ans Licht. Es könnte hilfreich für Sie sein, mit Ben zu sprechen. Über die Vergangenheit. Es könnte den Prozess beschleunigen.«
»Glauben Sie?«
»Ja«, sagte er. »Ich glaube, dass es vielleicht falsch war, unsere Arbeit vor Ben zu verheimlichen. Außerdem habe ich heute mit dem Personal im Waring House gesprochen. Ich wollte mir ein Bild von der Situation damals machen. Ich habe mit einer Mitarbeiterin gesprochen, mit der Sie sich gut verstanden haben. Ihr Name ist Nicole. Sie hat mir erzählt, dass sie ihre Arbeit dort erst vor kurzem wieder aufgenommen hat, aber sie hat sich sehr gefreut, als sie hörte, dass Sie wieder zu Hause
Weitere Kostenlose Bücher