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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice LaPlante
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kannst. Du besitzt einiges an Vermögenswerten, die du nicht gefährden solltest. Die Entscheidung war also richtig – beinahe richtig.
    Dies ist eine lange Vorrede, um dir zu sagen, dass ich dich für schuldunfähig erklären lassen werde, um dich vor gerichtlicher Verfolgung zu schützen. Für alle Fälle.
    Und es ist weiterhin eine lange Vorrede, um dir zu sagen, dass ich mir nicht sicher bin, ob Fiona die Richtige ist, sich um deine finanziellen Angelegenheiten zu kümmern. Sie ist zweifellos kompetent. Aber ist sie auch vertrauenswürdig? Ich würde mich wohler fühlen, wenn ich Kopien deiner Kontoauszüge bekäme. Können wir das vielleicht arrangieren?
    Bitte versuch, diesen Brief mit dem Gedanken im Hinterkopf zu lesen, dass ich um dein Wohlergehen bemüht bin. Geschäftsunfähigkeit ist ein juristischer Begriff. Er hat nichts zu tun mit dem, wozu du tatsächlich in der Lage bist. Es wird dir nicht plötzlich schlechter gehen, weil ein Gericht eine Entscheidung getroffen hat. Du wirst immer noch derselbe Mensch sein. Aber womöglich kannst du dir eine Menge Ärger und Kosten ersparen, indem wir diesen Schritt jetzt unternehmen, anstatt zu warten, bis die Polizei dich erneut vorlädt oder sogar Anklage gegen dich erhoben wird.
    Ich komme morgen noch einmal vorbei in der Hoffnung, dich zu Hause anzutreffen. Glaub mir, ich möchte dir nur helfen.
    In Liebe,
    dein Sohn Mark
    H eute ist meine Mutter gestorben. Ich weine nicht, ihre Stunde war gekommen. So ist das nunmal. So ist das Leben.
    Ach Mary!, sagte mein Vater immer, wenn meine Mutter etwas Unerhörtes tat– wenn sie bei einem offiziellen Essen auf einem Stuhl Can-Can tanzte oder vor den Augen entsetzter Passanten eine Taube steinigte. Ach Mary! Das Liebesduett der beiden.
    Er war so ein netter Mann, mein Vater. Er war ruhig und gelassen, wie Thoreau sagen würde. Wie ist er bloß an meine Mutter geraten? Sie flirtete mit homosexuellen Priestern, log das Blaue vom Himmel herunter, entkorkte jeden Nachmittag um vier die Whiskyflasche. Und jetzt, endlich, ist sie von uns gegangen.
    Mein Flug nach Philadelphia hatte Verspätung, und als ich im Hospiz eintreffe, ist das Bett bereits leer– jemand hat es versäumt, Bescheid zu geben, dass ich herkommen würde. Ich setze mich auf das abgezogene Bett. Spielt es eine Rolle? Nein. Ich weiß sowieso nicht, ob sie mich erkannt hätte.
    Am Ende ist sie abtrünnig geworden. Sie war ihr Leben lang eine strenggläubige Katholikin, aber in den letzten Monaten ihres Lebens hat sie sich von Jesus und der Gottesmutter ab- und den Märtyrerinnen zugewandt. Teresa von Ávila, Katharina von Siena und Lucia von Syrakus waren ihre ständigen Begleiterinnen. Sie kicherte wie ein kleines Mädchen, winkte ihnen mit einem Papiertaschentuch, bot ihnen kleine Häppchen an. Eine hungrige, freche Bande, nach dem zu urteilen, wie meine Mutter ihnen ständig zu essen gab und über ihre schlagfertigen Bemerkungen lachte.
    Ihre Schalkhaftigkeit hat sie nie abgelegt. Die hat sie nie verloren. Einmal hat sie ein Päckchen Ketchup von dem Tablett mit ihrem Mittagessen verschwinden lassen und sich später das Ketchup auf die Hand- und Fußgelenke geschmiert. Bittersüße Stigmata. Meine Mutter hat sich köstlich amüsiert, als die Schwesternhelferin schrie wie am Spieß, und grinsend eine unsichtbare Mitverschwörerin abgeklatscht.
    Was ihr schließlich den Rest gegeben hat, war ein Sturz. Ein ganz harmloser. Ihre Knie gaben unter ihr nach, als sie vom Bett zur Toilette schlurfte. Sie ist zu Boden gefallen, jemand hat ihr aufgeholfen, und das war’s.
    Am Abend bekam sie hohes Fieber. Die ganze Nacht über hat sie mit ihren Heiligen gesprochen. Es war eine andere Art von Delirium als sonst: Sie hat sich verabschiedet. Sie hat die Märtyrerinnen zum Abschied geküsst und sie lange und innig umarmt. Sie hat den Ärzten, den Schwestern, den Pflegern zum Abschied gewinkt. Sie hat den Hospizbesuchern, die an ihrem Zimmer vorbeigingen, zum Abschied gewinkt. Sie hat um ein großes Glas Scotch Whisky gebeten, und man hat ihr eins gebracht. Sie hat die letzte Ölung bekommen. Adieu, adieu.
    Mein Vater wurde nicht erwähnt. Ich auch nicht.
    Bis zum Ende spielte sie gern Streiche. Als die Pfleger kamen, um ihre Leiche abzuholen, fiel einem von ihnen ein merkwürdig geformter Klumpen zwischen ihren Brüsten auf. Er langte in

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