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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice LaPlante
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ihr Nachthemd, dann stieß er einen Schrei aus, wich erschrocken zurück und schüttelte seine Hand. Hat dich was gebissen?, fragten seine Kollegen grinsend. Ja, allerdings: das Gebiss meiner Mutter. In ihrer Jugend war sie eine ausgesprochene Schönheit gewesen und war bis zum Schluss von ihrer Anziehungskraft überzeugt. Also legte sie als eine ihrer letzten Handlungen eine Falle, und zwar an einer Stelle, von der sie glaubte, dass jemand hinlangen würde.
    Ich musste lächeln, als die Schwester mir all das erzählte. Was wird wohl am Ende in meinem Gedächtnis haften bleiben? Welche Grundwahrheiten werden für mich zählen? Welche Streiche werde ich spielen? Und wem?
    Jennifer.
    Jemand schüttelt mich. Die Schwester.
    Jennifer. Zeit für Ihre Medikamente.
    Nein. Ich muss beim Bestattungsinstitut anrufen. Beim Krematorium. Denn der Gedanke an eine Beerdigung ist mir unerträglich. Asche zu Asche, mehr ist nicht nötig. Das Grab ist bezahlt. Mein Vater liegt schon da. Geliebter Ehemann und Vater. Es fehlt nur noch die Inschrift auf dem doppelten Grabstein. Das kann ich morgen in Auftrag geben, und dann kann ich am Abend schon zurückfliegen. Nach Hause zu James und den Kindern.
    Jennifer. Sie sind in Chicago. Sie sind zu Hause.
    Nein. Ich bin in Philadelphia. Im Mercy Hospiz. Bei der Leiche meiner Mutter.
    Jennifer. Ihre Mutter ist schon vor langer Zeit gestorben. Vor vielen Jahren.
    Nein, das kann nicht sein.
    Doch. Und jetzt nehmen Sie schön Ihre Tabletten. Hier ist ein Glas Wasser. Gut. So ist’s recht. Wollen wir einen kleinen Spaziergang machen? Die Frau streckt ihre Hand aus. Ich nehme sie. Ich betrachte sie. Wenn ich nicht schlafen kann, wenn ich verwirrt bin, benenne ich Dinge. Versuche, mich zu erinnern, was wichtig ist. Und ich benutze die richtigen Namen. Namen sind kostbar.
    Ich fahre mit den Fingern über die Hand, die ich halte. Das ist das Hakenbein. Das ist das Erbsenbein. Das Triquetrum, das Mondbein, das Kahnbein, Kopfbein, Trapezoid, Trapezium. Die Mittelhandknochen, die Fingerknochen, die Endglieder. Die Sesambeine.
    Sie haben sanfte Hände. Sie waren bestimmt mal eine gute Ärztin.
    Vielleicht. Aber nicht unbedingt eine gute Tochter. Wann, sagten Sie, ist es passiert?
    Vor mehr als zwanzig Jahren. Sie haben mir die Geschichten alle erzählt.
    Habe ich getrauert?
    Das weiß ich nicht. Damals kannten wir uns noch nicht. Möglicherweise. Sie sind keine Frau, die ihre Gefühle offen zeigt.
    Ich halte immer noch ihre Hand, streichle ihre Finger. Die Dinge, die wichtig sind. Die Wahrheiten, an denen wir bis zuletzt festhalten. Diese Dinge machen das Leben, wie wir es kennen, möglich, habe ich in meinen Vorlesungen immer gesagt und dabei auf jedes einzelne Fingerglied gezeigt. Behandeln Sie sie mit höchster Ehrfurcht. Ohne sie sind wir nichts. Ohne sie sind wir kaum noch menschlich.
    D er Schöne ging zur Hintertür hinaus, wenn James zur Vordertür hereinkam. Doppelspiel. Mit ihm Visite machen und stark sein müssen. Er war so jung. Ihn tadeln wegen schlecht genähter Wunden. Nachdem ich das verletzte Glied rekonstruiert hatte, ging es dem Patienten doch besser, und er konnte seine Finger wieder bewegen, entgegnete er einmal fast weinerlich. Nicht sehr attraktiv in dem Kontext. Wirklich nicht.
    Die Verdrossenheit der Unerfahrenen, der Missmut der Gekränkten. Warum behandelst du mich so?, fragte er mich dann.
    Weil ich niemanden bevorzugt behandeln darf.
    Weil jemand etwas bemerken könnte?
    Weil es nicht nur meinen, sondern auch den Ruf des Krankenhauses schädigen würde.
    Wenn ich so schlecht bin, warum gibst du dich dann mit mir ab?
    Weil du nicht schlecht bist. Weil du wunderbar bist.
    Es hielt nicht lange. Wie auch? Und die Leute redeten. Aber ich hätte keine Sekunde davon missen wollen. Ihn zu verlieren und um ihn zu trauern und niemanden zu haben, dem ich meinen Kummer anvertrauen konnte, das schmerzte. Das ist ein einsamer Ort.
    Ich strecke den Arm aus und ertaste nur Bettzeug. Die Uhr sagt mir, dass es 1:13 Uhr ist, und James ist immer noch nicht zu Hause. Die Tatsache, dass ich weiß, wo er ist, lindert meine Sorgen nicht. Die Welt ist gefährlich, und die Stunden zwischen 1:00 Uhr und 3:00 Uhr sind die allergefährlichsten.
    Nicht nur draußen auf den Straßen der Stadt, sondern auch hier drinnen. Manchmal stehe ich aus dem Bett auf, um zur Toilette zu gehen oder um zu überprüfen, ob die Fenster

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