Ich darf nicht vergessen
und Türen geschlossen sind, und dann höre ich jemanden atmen. Rau und heiser. Wo eigentlich auÃer mir niemand im Haus sein dürfte. Nicht die Kinder, die sind längst ausgezogen. Und auch nicht James, denn der ist noch nicht zurück von seinen Streifzügen.
Ich gehe dem Geräusch nach und stelle fest, dass es aus einem der Gästezimmer kommt. Die Tür steht offen. Ich sehe eine Gestalt im Bett, groà und unförmig. Mann oder Frau? Mensch oder Homunculus? Zu dieser Stunde, in diesem verwirrten Nebelzustand ist alles möglich.
Ich hole tief Luft, um die Angst in Schach zu halten, schlieÃe die Tür und ziehe mich zurück. Ich schaffe es zur Treppe, laufe nach unten, stolpere beinahe in meiner Hast. Ich sehe mich nach einem sicheren Ort um. Das einzige Zimmer mit einer Tür ist das Bad. Ich schlieÃe mich ein, setze mich auf den Toilettendeckel und versuche, mich zu beruhigen. Hätte ich doch nur jemanden, an den ich mich klammern könnte, einen, der mir die Hand tätschelt und sagt: Es ist alles nur ein Traum. Oder: Es ist doch nur ein Film. Denn ich kann das eine vom anderen nicht mehr unterscheiden. Aber es ist niemand hier.
Magdalena ist unterwegs und hat mich mit diesem fremden Ding hier im Haus allein gelassen. Plötzlich wünsche ich mir einen Hund, einen Vogel oder einen Fisch, irgendetwas mit einem schlagenden Herzen. Ich liebe Katzen, aber wir hatten nie eine, weil es mir zutiefst widerstrebte, eine Katze im Haus zu halten, deren Instinkt sie zum Umherstreifen nach drauÃen treibt. In Chicago eine Katze nach drauÃen zu lassen ist gefährlich.
Hat es mich beunruhigt, als James zum ersten Mal nicht nach Hause kam? In der Nacht, als er zum ersten Mal gesündigt hat? Einen kurzen Moment lang. Dann erfuhr ich, was passiert war, und mein ganzer Kummer verwandelte sich in Wut.
Nicht Wut auf ihn, zumindest nicht mehr als ein kurzes Aufflackern von Wut, das so schnell verbrannte wie ein Strohfeuer. Nein, es war nach innen gerichtete Wut. Ich habe mich nie für dumm gehalten. Ich achtete mich selbst so sehr, dass ich davon ausging, andere würden es auch tun, vor allem diejenigen, die mir am nächsten standen. James. Die Kinder, selbst während ihrer schrecklichen Teenagerjahre. Amanda natürlich. Ich habe niemandem auÃer Amanda von James erzählt, und sie hat mich mit der Banalität ihrer Reaktion enttäuscht.
Es gibt nichts Schlimmeres als Verrat, sagte sie. Und: Wenn kein Vertrauen mehr da ist, ist auch kein Respekt mehr da.
Es gibt eine Menge Dinge, die schlimmer sind als Verrat, entgegnete ich. Und der Respekt verabschiedet sich immer vor dem Vertrauen.
Was ist denn schlimmer als Verrat?
Das Augenlicht zu verlieren. Seine Arme nicht mehr gebrauchen zu können. So ziemlich alles, was den Körper schädigt.
Krankheit.
Ja.
Wer gesund ist, dem fehlt nichts. Sie verzog das Gesicht, als sie diese Plattitüde zitierte.
So ungefähr.
Also, wenn das nicht die eigennützigste Einstellung ist, die man als Ãrztin haben kann, dann weià ich es nicht. Kein Wunder, dass sie dir den Spitznamen âºder Hammerâ¹ gegeben haben.
Es gibt eine Menge gutgläubige Nägel.
Wie weit würdest du mit dieser Theorie gehen?
Mit welcher Theorie?
Dass körperliches Gebrechen schlimmer ist als psychisches, emotionales oder spirituelles?
Na ja, man kann das eine natürlich nicht vom anderen trennen. Ich würde bis zu dem Punkt gehen, den ich als Ãrztin schon immer vertreten habe: Wenn ein Patient zu mir kommt, tue ich alles in meiner Macht Stehende, um ihn zu heilen, und wenn das nicht geht, ihm ein möglichst normales Leben zu ermöglichen. Natürlich kann eine körperliche Verletzung oder eine Erkrankung schwere emotionale und psychische Auswirkungen haben, die in die Prognose mit einbezogen werden müssen.
Und was ist mit spirituellen Auswirkungen?
Die Frage verblüfft mich. Wie kann der Verlust einer Hand spirituelle Probleme verursachen? Im Mittelalter glaubten die Ãrzte, dass alles umgekehrt funktionierte: Spirituelle Störungen lösten körperliche Leiden aus. Von Lüsternheit zum Beispiel bekam man Lepra. Aber davon abgesehenâ¦?
So etwas kann dazu führen, dass jemand den Glauben an seinen Gott verliert. Seine Vorstellung vom Universum. Sein Gefühl für Recht und Unrecht. Aber ich will die Frage mal andersherum formulieren: Was könnte in deinen Augen eine spirituelle
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