Ich darf nicht vergessen
Tasse, die vor mir steht. Und ich ignoriere die beiden Frauen in meiner Küche, zwei von zahllosen mir vage bekannten Fremden, die in mein Haus eindringen, die sich mit meinem Haus und mir gegenüber alle möglichen Freiheiten herausnehmen.
Jetzt gerade beugt sich eine von den beiden über meinen Stuhl, streckt die Hand aus, will meinen Kopf tätscheln. Will mich tätscheln. Nein. Aufhören. Ich bin kein wildes Tier, das man durch Streicheln beruhigen kann. Ich lasse mich nicht beruhigen.
E s gibt ein Foto von James, das mir gefällt, nur ein einziges. Es zeigt James, wie er leibt und lebt: aufgeblasen, von sich eingenommen, eigennützig. Er würde nicht lächerlicher wirken, wenn er eine Krone auf dem Kopf und ein Leopardenfell um die Schultern trüge.
Ich mag es, weil es ehrlich ist. Ich mag es, weil es die Wahrheit zeigt. Auf den anderen Fotos wirkt er spontan, offen, leutselig. Aber das ist alles nur Fassade. In Wirklichkeit hat er eine viel zu hohe Meinung von sich selbst, um andere als ebenbürtig zu betrachten. Dass ich ihn so gut durchschaue, führt nicht dazu, dass ich ihn weniger liebe.
I ch rufe nach Amanda. Ich schlieÃe die Tür hinter mir, stecke den Schlüssel in die Tasche. Alles ist still. Ich suche nach dem Lichtschalter, finde ihn, drücke darauf, und die Eingangshalle wird von Licht durchflutet. Hallo!, rufe ich noch einmal, diesmal lauter. Nichts. Ob sie verreist ist? Aber das hätte sie mir gesagt. Sie hätte mich gebeten, ihre Blumen zu gieÃen, ihre Post hereinzunehmen, Max zu füttern.
Jetzt fällt es mir wieder ein. Max!, rufe ich. Miez, miez, miez! Aber ich höre kein Glöckchen, kein Scharren von Pfoten auf dem Holzboden.
Die Wohnzimmertür ist mit gelbem Plastikband versperrt. POLIZEIABSPERRUNG KEIN ZUTRITT . Ich gehe in die Küche, die ich so gut kenne wie meine eigene. Etwas stimmt nicht. Es gibt keine Geräusche wie in einem bewohnten Haus. Der Kühlschrank summt nicht. Ich mache ihn auf. Im Innern ist es dunkel, und es riecht muffig. Die Wasserrohre, die Amanda ständig schlaflose Nächte bescheren, sind stumm. Keine knarzenden Bodendielen.
Aber etwas ist hier, etwas, das mit mir zusammenkommen will. Ich glaube nicht an übernatürliche Dinge. Ich bin nicht realitätsfremd und auch nicht religiös. Doch eins weià ich: Eine Offenbarung bahnt sich an. Denn ich bin nicht allein hier.
Dann tritt sie aus dem Schatten, kaum wiederzuerkennen, so leuchtend ist ihr Teint, so golden ihr Haar. Sie trägt ein schlichtes blaues Kostüm, hautfarbene Strümpfe, Schuhe mit flachen Absätzen. Ich habe sie noch nie auf diese Weise gekleidet gesehen, wie eine aufstrebende leitende Angestellte in den siebziger Jahren. Die Perle des Betriebs. Aber ihr Gesicht ist schmerzverzerrt, und ihre Hände sind bandagiert. Sie streckt sie mir entgegen.
Ich ergreife ihr rechtes Handgelenk und wickle vorsichtig den groÃen Baumwollverband von ihrer Hand. Herum und herum, bis die Hand zu sehen ist: perfekt, weiÃ, weich. Die unversehrte Hand eines braven Mädchens. Ich vergleiche sie mit meinen von Altersflecken übersäten Händen. Den Händen der Hexe, die das Mädchen in den Wald lockt und es mästet, um es zu verspeisen. Den Händen einer Sünderin.
Plötzlich sind Amanda und ich nicht mehr allein. Meine Mutter ist da, mitsamt ihren Märtyrerinnen. Und auch mein Vater. Seltsamerweise trägt er einen Motorradhelm und eine Lederjacke, obwohl er doch immer so groÃe Angst vor dem StraÃenverkehr hatte, dass er nie den Führerschein gemacht hat. Und James natürlich und Ana und Jim und Kimmy und Beth aus dem Krankenhaus und meine Nachbarn Janet und Edward und Shirley.
Sogar Cindy und Beth vom College und Jeannette aus der Highschool sind da. Meine GroÃmutter OâNeill. Ihre Schwester, meine GroÃtante May. Leute, an die ich seit Jahrzehnten nicht mehr gedacht habe. Das Zimmer ist voller vertrauter Gesichter. Ich liebe sie vielleicht nicht alle, aber ich kenne ihre Namen, und das ist mehr als genug. Ist das vielleicht die Offenbarung? Bin ich vielleicht im Himmel? Unter so vielen Menschen zu sein und alle ihre Namen zu kennen.
E s ist dunkel hier in meinem Haus. Ich stoÃe mit der Hüfte gegen etwas Scharfkantiges. Ich strecke die Hände aus und fühle eine Wand, einen Türrahmen, eine verschlossene Tür. Ich probiere den Knauf. Die Tür lässt sich nicht öffnen.
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