Ich darf nicht vergessen
nie auch nur eine Frage gestellt. Und sie hat ihre Haltung mir gegenüber nie geändert. Wir haben so weitergemacht wie immer. Die Bilderstürmerin und die hingebungsvolle Patentante. Bis zu dem Tag, an dem sie gestorben ist.
Und was hast du heute Nachmittag gesagt, als ich dir das alles erzählt habe? Du hast gelächelt und mir den Arm gestreichelt. Dann hast du deine Hand viel zu schnell wieder zurückgezogen. Denn ich bin längst nicht mehr in dem Alter, in dem man nicht angefasst werden will. Ganz im Gegenteil. In letzter Zeit werde ich sowieso kaum berührt. Ich habe einige Jahre in der Wildnis verbracht und finde den Weg nicht zurück. Lieber Gott, hilf mir, dachte ich, und erst als du sagtest, Ja, bitte, wurde mir bewusst, dass ich es laut ausgesprochen hatte.
I ch habe einen schlechten Tag, einen Tag, an dem ein Gläubiger beten würde, aber so tief will ich nicht sinken. Und so geistert ein einziges Wort in meinem Kopf herum, kleine Bitten an kleine Götter. Götterchen. Bitte. Nur dieses eine Wort, immer und immer wieder.
F iona schluchzt. An meinem Küchentisch. Die Hände vors Gesicht geschlagen. Magdalena steht im Hintergrund und reibt sich den gebeugten Rücken. Sollen sie sich beide zum Teufel scheren.
Ich tue so viel!, sagt Fiona. Tag für Tag. Monat für Monat. Der Kopf der grünäugigen Schlange lugt aus dem langen Ãrmel ihres T-Shirts hervor. Ihr kurzes Haar ist total zerzaust vom vielen Raufen. Wir sind schon eine ganze Weile zugange.
Ja, das stimmt. Sie tun wirklich eine Menge, sagt Magdalena. Ihr tröstender Ton passt nicht zu ihrem Gesichtsausdruck.
Und was genau tust du?, frage ich. Habe ich dich jemals um irgendetwas gebeten? Ich bin empört, erfüllt von der Wut der Gekränkten.
Ich weiÃ, dass es die Krankheit ist, die aus dir spricht, aber es ist trotzdem unerträglich, sagt Fiona. Ihre Stimme klingt gedämpft. Sie verbirgt ihr Gesicht immer noch in den Händen.
Nein, ich bin es, die spricht. Hör auf, mich zu behandeln, als wäre ich verrückt. Gut, ich bin vergesslich. Aber bloà weil ich mich nicht erinnern kann, wo ich meine Autoschlüssel hingelegt habe, bin ich noch lange nicht psychotisch. Du brauchst gar nicht den Kopf zu schütteln. Ich habe es dich sagen hören. Am Telefon. Sie ist sehr schwierig heute. Ach was, schwierig, sie ist regelrecht psychotisch. Du hast es gesagt. Versuch nicht, es zu leugnen.
Fiona schüttelt nur den Kopf.
Die Blondine schaltet sich ein. Jennifer, Sie können Ihre Autoschlüssel nicht finden, weil es keine mehr gibt. Ihr Auto wurde letztes Jahr verkauft. Sie dürfen nicht mehr Auto fahren. Sie sind zu krank.
Sie auch?
Ja, ich auch. Alle.
Alle.
Ja, fragen Sie nur. Gehen Sie nach drauÃen, und klopfen Sie bei den Nachbarn an die Tür.
Dann habt ihr beide also über mich geredet, sage ich. Habt es überall rumerzählt. Ihr seid hinter irgendwas her. Hinter meinem Geld. Du hast in meinen Unterlagen rumgeschnüffelt, Fiona. Ich habe es gesehen.
Fiona hebt den Kopf. Mom, ich habe die Vollmacht über deine finanziellen Angelegenheiten. Du hast sie mir übertragen. Vor über zwei Jahren. Nachdem die Alzheimererkrankung bei dir diagnostiziert worden war. Erinnerst du dich?
Sie schnaubt und dreht sich mit einem gequälten Lächeln zu Magdalena um. Ich frage eine Frau mit Demenz, ob sie sich erinnert. Wer von uns beiden ist eigentlich verrückt?
Es reicht, sage ich. Raus. Sofort. Und lass die Unterlagen da. Ich will sie überprüfen.
Mom, du warst noch nie in der Lage, Zahlen zu überprüfen. Das hast du mir selbst gesagt. Du kannst überhaupt nicht mit Geld umgehen.
Aber es gibt genug Leute, die das können. Ich werde jemanden einstellen. Ich werde eine Buchprüfung in Auftrag geben.
Fiona hebt den Kopf. Eine Buchprüfung? Wozu?
Warum macht man so was wohl? Um sich zu vergewissern, dass die Bücher in Ordnung sind. Ich will eine zweite Meinung einholen.
Aber du hast mir doch immer vertraut. Immer.
Wo bleibt deine Professionalität? Kriege ich vielleicht jedes Mal einen Tobsuchtsanfall, wenn ein Patient eine zweite Meinung einholt? Was wäre ich wohl für eine Ãrztin, wenn ich das täte?
Das ist etwas anderes.
Ach? Wirklich? Was hast du zu verbergen?
Nichts! Verdammt, Mom, beruhige dich!
Ich bin die Ruhe selbst. Ich habe mich sehr gut im Griff. Ich lasse mich nur nicht betrügen. Raus hier. Und wag es
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