Ich darf nicht vergessen
Ich muss auf die Toilette. Dringend. Wo ist das Licht. Ich will nach Hause. Nach Philadelphia. Ich bin schon lange genug hier. Eine Gefangene.
Was für ein Verbrechen habe ich begangen? Wie lange bin ich schon eingesperrt? Es ist oft besser, in Ketten als frei zu sein. Wer hat das gesagt? Der Druck auf meiner Blase ist unerträglich. Ich hocke mich hin. Ich hebe mein Nachthemd und ziehe mir die Unterhose herunter. Lasse es laufen. Bepinkle mir die nackten FüÃe und Knöchel. Egal.
Was für eine Erleichterung! Jetzt kann ich schlafen. Jetzt kann ich einschlafen. Ich lege mich hin, wo ich bin. Unter mir ist es weich. Es ist kein Bett, aber akzeptabel. Ich umarme meinen Körper, um mich zu wärmen. Wenn ich ganz still hier liegen bleibe, wird mir nichts zustoÃen. Wenn ich meine Ketten genieÃe, werde ich frei sein.
D rinnen ist es nicht sicher. Zu dunkel. Und das Haus atmet. Es atmet, und Fremde tauchen auf und berühren dich. Zupfen an deinen Kleidern. Zwingen dich, den Mund aufzumachen, und stopfen ekelhafte Pillen hinein. DrauÃen ist es heller, der Mond und die StraÃenlaternen bedecken die Gehwege und die Gärten, die gerade aus dem Winterschlaf erwachen, mit einem sanften Glanz.
Alles ist da, wo es hingehört. Selbst das dicke, knallrot angestrichene Ding aus Metall ist ein hübscher Anblick. Es war schon immer da, vor dem Haus. Und es wird immer da sein. In den Schatten lauern Wesen, aber sie tun mir nichts. Sie lassen mich ungestört hier sitzen, im Gras.
Wenn ich nach rechts schaue, sehe ich die Kirche am Ende der StraÃe. Zu meiner Linken die Wäscherei Bright & Easy. Und oben die Sterne. Winzige, helle Punkte, die meisten bleiben, wo sie sind, aber einige blinken, senden Signale aus, während sie durch die dunkle Weite dahinziehen.
Wenn ich die Botschaft nur deuten könnte. Ich möchte meine Freundin bei mir haben. Sie würde sie verstehen. Meine Freundin bedeutet Sicherheit. Sie bedeutet Trost. Ihre Gesichtszüge ändern sich nie, ihre Stimme wird nie laut. Sie greift nicht nach dem Telefon. Sie zwingt mich nicht, Tee zu trinken und kleine, bittere Kügelchen zu schlucken. Ich gehe jetzt. Ich öffne das Törchen. Drei Häuser die StraÃe hinunter. Ich zähle sie genau ab. Drei lautet die magische Zahl, sagt meine Freundin.
Das Tor klemmt, aber ich bekomme es auf. Der mit Backsteinen gepflasterte Weg ist uneben, deswegen gehe ich sehr vorsichtig zu der weiÃen, steinernen Statue des lachenden Buddhas, der mitten im Vorgarten thront. Der Buddha hat den Schlüssel, sagt meine Freundin. Und du weiÃt, du bist immer willkommen, Tag und Nacht.
Ich ziehe den Schlüssel unter den dicken Backen des Buddhas hervor und schlieÃe die Haustür auf. Ich werde meine Freundin besuchen. Sie wird mir alles erklären. Sie weià alles. Sie weià es alles.
A nscheinend ist heute mein Geburtstag. Der 22. Mai. Magdalena hat es für mich ausgerechnet: Ich bin jetzt fünfundsechzig. Fiona und Mark führen mich zum Essen aus. Ins Le Titi. Heute Nachmittag ist meine ehemalige Assistentin Sarah vorbeigekommen. Erstaunlich, dass sie meinen Geburtstag kennt. Ich würde mich nie an ihren Geburtstag erinnern. Nicht mal zu meinen besten Zeiten habe ich ihn gewusst. Ich hätte noch nicht mal nachgefragt. Sarah hat mir ein Geschenk des Krankenhauses gebracht: eine fast einen Meter hohe Statue der Heiligen Rita von Cascia. Achtzehntes Jahrhundert. Wunderschön.
Sie sind am selben Tag geboren, sagte Sarah.
Genau genommen bin ich an ihrem Todestag geboren.Aber wir haben mehr als dieses Datum gemeinsam.
Richtig â man hat Sie oft die Ãrztin für aussichtslose Fälle genannt.
Sie sind ja die reinste Expertin in Hagiographie.
Das ist das unvermeidliche Resultat von fünfzehn Jahren Zusammenarbeit mit Ihnen. Jedenfalls waren alle enttäuscht, dass wir keine Abschiedsparty für Sie organisieren konnten, als Sie in Rente gegangen sind. Sie waren so plötzlich fort. Also haben wir alle zusammengelegt. Hier. Die Glückwunschkarte.
Ich fühle mich geehrt, sagte ich.
Das stimmte wirklich. Und ich war tief gerührt.
Und für uns alle war es eine Ehre, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.
Ich berührte die Statue, fuhr mit den Fingerspitzen über die vergoldete Krone, über die Falten ihres Kleids, das von den Schultern bis zum Boden reichte.
Sarah zeigte auf die Statue. Warum hat sie eine Wunde mitten auf der
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