Ich darf nicht vergessen
Stirn?
Der Legende nach hat sie Gott darum gebeten, auf dieselbe Weise leiden zu dürfen wie Jesus. Da ist ein Dorn von dem Kreuz gefallen, das an der Wand hing, und hat sie an der Stirn verletzt.
Und warum hält sie eine Rose in der Hand?
Als sie im Sterben lag, hat eine Kusine sie gefragt, ob sie ihr einen Wunsch erfüllen könne. Rita bat um eine Rose aus ihrem Garten. Und obwohl noch Schnee lag, blühte dort eine Rose.
Ich liebe diese alten Legenden, Sie nicht auch?
Es gibt interessante und weniger interessante. Die Legende von der Heiligen Rita finde ich nicht besonders anregend. Der grausame Vater, der trunksüchtige Ehemann, die ungehorsamen Söhne. Ziemlich abgedroschen. Aber mir gefällt die Vorstellung, dass es jemanden gibt, an den man sich wenden kann, wenn man keinen Ausweg mehr weiÃ.
Haben Sie sie je angerufen? Ich frage nur aus Neugier.
Nein, nein. Bei den wenigen Gelegenheiten, als ich Hilfe brauchte, gab es andere, die ich darum bitten konnte.
Sie reden von Menschen, die Ihnen geholfen haben. Ich rede von etwas anderem.
Sie sprechen von⦠höherer Gewalt?
Ich spreche von ⦠Ihrer Krankheit, sagte Sarah zögernd. Wir haben nie darüber geredet. Offiziell weià niemand im Krankenhaus, warum ich frühzeitig pensioniert wurde. Was inoffiziell die Runde macht, ist wohl etwas anderes.
Ich will nicht behaupten, ich hätte nicht anfangs gehofft, dass die Diagnose falsch war.
Haben Sie nicht um ein Wunder gebetet?
Nein, nie.
Oder auf ein Wunder gehofft?
Auch nicht.
Wie halten Sie das aus? Ich verstehe das nicht.
Was gibt es da zu verstehen? Ich habe eine VerschleiÃerkrankung. Diese Erkrankung lässt sich nicht heilen. Damit müssen sich hunderttausende Menschen auf der ganzen Welt abfinden.
Sie reden so sachlich darüber. Es geht um Ihr Leben, nicht um das eines hypothetischen Patienten.
Was bleibt mir denn für eine Wahl, meine liebe Sarah?
Verzeihen Sie. Das war indiskret von mir. Aber ich mache mir einfach Gedanken. Frage mich, wie Sie mit Ihrer Situation zurechtkommen.
Irgendwann müssen wir alle sterben. Bis auf wenige Ausnahmen werden wir meistens vorgewarnt. Einige wissen früher als andere Bescheid. Einige leiden mehr als andere. Sie wollen also wissen, wie man die Zeitspanne aushält von der Vorwarnung bis zum Tod?
Ja, ich glaube, das ist es.
Ich schätze, jeder geht anders damit um. Um es auszuhalten, hat Rita um das Unmögliche gebeten: eine Rose mitten im Winter.
Und Sie?
Ich war perplex. Niemand stellt mir mehr solche Fragen. Man fragt mich, ob ich Tee möchte. Ob ich friere. Ob ich mir ein Bach-Konzert anhören möchte. Man meidet die wichtigen Fragen.
Mein letzter Wunsch auf dem Totenbett?
Na ja, nicht gerade auf dem Toten bett. Aber glauben Sie, Sie werden auch weiterhin so praktisch denken? Oder glauben Sie, dass Sie irgendwann in Versuchung kommen, um das Unmögliche zu bitten?
Eine Folge meiner Krankheit besteht darin, dass die Grenze zwischen diesen beiden Dingen zunehmend unscharf wird. Heute Morgen habe ich in meinem Notizheft geblättert und festgestellt, dass meine Eltern mich immer wieder besuchen. Magdalena hat mehrere lange Gespräche festgehalten, die ich mit ihnen geführt habe. Natürlich erinnere ich mich an nichts davon. Aber die Vorstellung gefällt mir sehr.
Dann werden Ihnen ja vielleicht doch ein paar sehr unmögliche Wünsche erfüllt.
Vielleicht. Ja. Mir ist etwas eingefallen. Sie sprachen eben davon, wie man etwas aushält.
Ja?
Eine gute Freundin von mir ist gerade gestorben.
Ja, davon habe ich gehört. Das tut mir leid.
Und in all dem Zorn und der Trauer habe ich auch Dankbarkeit empfundenâ Dankbarkeit, dass nicht ich gestorben war. Ich betrachte also den Tod immer noch als etwas, das ich lieber aufschiebe. Nicht dass ich nicht darüber nachdenken würdeâ und ich bestreite auch nicht, dass ich mir an schlechten Tagen überlege, was ich tun werde, wenn es noch viel schlimmer wird. Aber noch bin ich nicht so weit.
Na, das höre ich aber gerne! Sarah umarmte mich, dann sammelte sie ihre Sachen zusammen. Ich winkte ihr zum Abschied, machte die Haustür zu und setzte mich hin, um mein Geschenk zu begutachten. Was für ein Schmuckstück. Es wird den Ehrenplatz im Wohnzimmer bekommen, auf dem Kaminsims neben der Ikone.
Ich fühle mich wirklich gesegnet heute.
Nein, meine Zeit ist noch nicht gekommen. Noch nicht.
W ir sitzen vor
Weitere Kostenlose Bücher