Ich darf nicht vergessen
Der Junge und das Mädchen. Sie wirken älter, ein bisschen mitgenommen, vor allem der Junge. Ich ziehe sie an mich, nehme sie beide in die Arme, den Kopf halb auf der Schulter meiner Tochter.
Warum habt ihr denn geklingelt?, frage ich. Ihr seid doch hier zu Hause! Hier seid ihr immer willkommen. Das wisst ihr doch!
Sie lächeln beide. Beinahe wie choreographiert. Sie wirken erleichtert. Ach, wir wollten uns nicht reinschleichen!, sagt mein Sohn, mein hübscher, hübscher Sohn. Noch bevor er in den Stimmbruch kam, waren die Mädchen hinter ihm her.
Wir setzen uns an den Küchentisch. Die Blondine bietet Kaffee, Tee, Plätzchen an. Sie lehnen beide ab, aber der Junge nimmt ein Glas Wasser. Die Blondine setzt sich auch an den Tisch. Etwas liegt in der Luft.
Wie geht es dir?, fragt mich der Junge.
Ganz gut, sage ich.
Der Junge schaut die Blondine an. Sie schüttelt kaum merklich den Kopf.
Bist du sicher? Du wirkst ein bisschen ⦠aufgeregt. Fast gereizt.
Die Worte kommen von dem Mädchen, meiner Tochter. Die Schlange windet sich zärtlich um ihre zarten Knochen. Seltsamerweise kommt sie nach James. Trotz seiner stattlichen GröÃe wirkt er irgendwie substanzlos. Immer fünf Kilo zu leicht. Er sieht das natürlich nicht so. Er geht regelmäÃig joggen und schwimmen. Immer in Bewegung. Wenn er nicht raus kann, weil es zu stark regnet oder schneit oder zu kalt ist, rennt er eine Stunde lang die Treppe hoch und runter und macht dann Dehnübungen.
Ich denke über ihre Frage nach. Wäge meine Möglichkeiten ab. Und entscheide mich.
Früher oder später hätten wir sowieso darüber reden müssen, sage ich. Ich schiebe dieses Gespräch schon eine ganze Weile vor mir her. Aber jetzt, wo ihr schon mal alle beide hier seid, können wir die Gelegenheit nutzen.
Das Mädchen nickt. Der Junge schaut mich an. Die Blondine schaut auf den Tisch.
Euer Vater weià nichts davon. Noch nicht. Also erzählt es ihm bitte nicht.
Machen wir nicht, sagt der Junge. Du kannst dich auf uns verlassen. Er grinst schief, als er das sagt.
Es hat schon vor einer Weile angefangen. Vor Monaten. Zuerst ist mir aufgefallen, dass ich alles Mögliche vergessen habe. Kleinigkeiten, zum Beispiel, wo ich meinen Schlüsselbund oder mein Portemonnaie oder die Packung Nudeln hingelegt hatte, die ich gerade aus dem Schrank genommen hatte. Dann diese Erinnerungslücken. Erst war ich in meinem Arbeitszimmer und im nächsten Moment in der Tiefkühlabteilung bei Jewel und hatte keine Ahnung, wie ich dahingekommen war. Dann fehlten mir Wörter. Mitten in einer Operation fiel mir plötzlich das Wort Klammer nicht mehr ein. Nachher, auf dem Weg nach Hause, wusste ich es wieder. Aber während der OP musste ich sagen: Geben Sie mir das glänzende Ding, mit dem man etwas festklemmt. Ich habe gesehen, wie meine Assistenzärzte Blicke austauschten. Es war demütigend.
Der Junge und das Mädchen wirken nicht schockiert. Das ist gut. Das Schlimmste kommt erst noch.
Ich muss euch etwas gestehen, sage ich. Ich weià eure Namen nicht. Die Namen meiner eigenen Kinder. Eure Gesichter kenne ichâ dafür bin ich dankbar. Andere Gesichter sehe ich nur noch ganz verschwommen. Zimmer sind Gefängnisse ohne Türen, ohne Ein- und Ausgang. Badezimmer werden zu Labyrinthen.
Ich bin Fiona, sagt das Mädchen. Und das ist dein Sohn Mark.
Danke. Natürlich. Fiona und Mark. Tja, langer Rede kurzer Sinn, ich war beim Arztâ Dr. Carl Tsien. Natürlich kennt ihr Carl. Er hat mir ein paar Fragen gestellt und mich zu einem Spezialisten an der University of Chicago geschickt. Die Uniklinik dort hat eine Spezialabteilung. Sie nennt sich Memory Unit, und das ist nicht mal ironisch gemeint.
Man hat mich einigen Tests unterzogen. Vielleicht wisst ihr das, vielleicht auch nicht, aber es gibt keine Möglichkeit, Alzheimer mit Sicherheit zu diagnostizieren. Eigentlich kann man es nur per Ausschlussverfahren feststellen. Sie haben mein Blut untersucht, um latente Infektionen auszuschlieÃen. Sie haben eine Schilddrüsenunterfunktion und Depressionen ausgeschlossen. Vor allem hat man mir viele Fragen gestellt. Nach all den Untersuchungen haben sie mir keine groÃen Hoffnungen gemacht.
Meine Kinder nicken ruhig. Sie weinen nicht. Sie wirken nicht erschüttert. Die Blondine legt immerhin eine Hand auf meine Hand.
Vielleicht habe ich mich nicht eindeutig ausgedrückt, sage
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