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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice LaPlante
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sie ihre Medikamente nimmt. Sie hat sie beim Schlafengehen verweigert. Sie wissen, was morgen passiert, wenn wir sie ihr nicht verabreichen.
    Keine Milch. Kaffee, sage ich, aber keiner hört mir zu. So geht das hier. Sie sagen, was sie wollen, versprechen einem alles. Ihre Worte braucht man nicht zu beachten, selbst an Tagen, an denen man sie behalten kann, nein, man muss ihre Körper beobachten. Vor allem ihre Hände. Die Hände lügen nie. Man muss aufpassen, was sie halten. Wonach sie greifen. Wenn man die Hände nicht sehen kann, wird es brenzlig. Dann muss man schreien.
    Ich mustere das Gesicht der jungen Frau, die mich zur Küche bringt. Meine Prosopagnosie, die Unfähigkeit, Gesichter zu unterscheiden, verschlimmert sich immer mehr. Ich kann mir Gesichtszüge nicht merken, deswegen studiere ich sie, wenn ich eine Person vor mir habe. Versuche zu tun, was jedes halbjährige Kind kann: Bekanntes von Unbekanntem trennen.
    Bei diesem Gesicht kommt mir nichts bekannt vor. Es ist von Aknenarben übersät, der Kopf ist brachycephal. Die Person hat einen Überbiss, und sie setzt den rechten Fuß leicht nach innen, wahrscheinlich aufgrund einer Torsion des Schienbeins. Genug zu tun für eine Reihe teurer Spezialisten. Allerdings nicht für mich. Denn ihre Hände sind perfekt. Groß und kräftig. Nicht sanft. Aber dies ist kein Ort, an dem die Sanftheit gedeiht. Hier setzt sich die natürliche Auslese durch, sowohl bei denen, die pflegen, als auch bei denen, die gepflegt werden.
    Das Wort ist hier in aller Munde: Pflege. Er braucht Langzeitpflege. Sie hat keinen Anspruch auf Heimpflege. Wir stellen derzeit Pflegepersonal ein. Sie ist ein Pflegefall. Die Pflegesätze sind zu niedrig. Sie müssen Ihre Zähne pflegen. Neulich habe ich das Wort so oft in Gedanken wiederholt, bis es jede Bedeutung verloren hatte. Pflege. Pflege. Pflege.
    Ich habe einen Pfleger um ein Wörterbuch gebeten. Den Mann, der keinen Bart hat, aber auch nicht glattrasiert ist, den Mann, dessen Gesicht ich mir merken kann wegen des Hämangioms auf seiner linken Wange.
    Später kam er mit einem Zettel zu mir. Laura hat es für Sie im Internet nachgesehen, sagte er. Er wollte mir den Zettel geben, aber ich habe den Kopf geschüttelt. Es war kein Lesetag. Die werden immer seltener. Er hielt den Zettel hoch und las stockend ab, stolperte über die Wörter. Er ist Filipino. Er glaubt an den Heiligen Geist, an den Herrn und Schöpfer. Er bekreuzigt sich vor der Statue der Frau mit dem Heiligenschein, die auf meiner Kommode steht. Er hat mich schon mehrmals auf mein Christophorus-Medaillon angesprochen. Es freut ihn offenbar, dass ich es trage.
    Pflege: das Pflegen, sorgende Obhut: eine liebevolle, aufopfernde Pflege, las er. Behandlung mit den erforderlichen Maßnahmen zur Erhaltung eines guten Zustands: die P. des Körpers, der Gesundheit.
    Er runzelte die Stirn, dann lachte er. Eine Menge Erklärung für so ein kurzes Wort! Das klingt ja, als hätte ich einen richtig harten Job!
    Ihr Job ist ja auch hart, sagte ich. Sie haben den härtesten Job von allen. Den Mann mag ich. Er hat ein Gesicht, das mir gefällt, trotz– oder vielleicht auch wegen– seines Blutschwamms. Ein Gesicht, das man sich merken kann. Ein Gesicht, das mir meine Ängste wegen der Prosopagnosie ein bisschen lindert.
    Nein, nein! Nicht bei Patienten wie Ihnen!
    Hören Sie auf, mit mir zu flirten, sagte ich zu ihm. Aber er hatte mich zum Lächeln gebracht. Etwas, was der jungen Frau mit den starken Händen nicht gelingen wird.
    Wir kommen im Speisesaal an, sie setzt mich auf einem Stuhl ab und geht. Jemand anders wird übernehmen. Jemand anders.
    Ich mache es wie bei meinen Patienten in der Sozialklinik, wo ich mittwochs ehrenamtlich arbeite: Ich konzentriere mich auf die Symptome und lasse die Person außer Acht. Erst heute Morgen hatte ich einen Patienten. Wenn seine Hand- und Fußgelenke nicht so geschwollen gewesen wären, hätte ich auf leichte Depressionen getippt. Er war gereizt. Unkonzentriert. Seine Frau habe sich beklagt, sagte er. Aber die Entzündung gefiel mir nicht, deshalb habe ich endomysiale und Antitransglutaminase-Antikörper bestimmen lassen.
    Falls ich mit meiner Vermutung richtigliege, wird der Patient sein Leben sehr einschränken müssen. Kein Weizen. Keine Milchprodukte. Kein Brot, unser Grundnahrungsmittel. Patienten, die sich selbst zu ernst nehmen und

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