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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice LaPlante
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was mit ihr passierte. Wie sie dahintergekommen ist. Das ist mir immer ein Rätsel gewesen.
    Na ja, sie hat doch noch nie über ihre Gefühle gesprochen.
    Nein, aber irgendwie fühle ich mich … geehrt.
    Sie hockt neben mir.
    Mom, ich weiß, dass du nicht mehr da bist. Ich weiß, dass du dich nicht erinnern wirst. Es ist alles so traurig. Aber es hat auch schöne Momente gegeben. Und das heute war einer davon. Ich danke dir dafür. Was auch immer passiert, du sollst wissen, dass ich dich liebhabe.
    Ich lausche dem Auf und Ab ihrer sanften Stimme, achte auf den Rhythmus. Frage mich, wer sie ist. Dieser bunte Vogel in meiner Küche. Dieses schöne junge Mädchen mit dem Engelsgesicht, das sich vorbeugt und mit seinen Lippen mein Haar berührt.
    Der Junge wirkt belustigt. Du warst schon immer sentimental, sagt er.
    Und du warst schon immer ein Arschloch.
    Beim Hinausgehen gibt sie ihm einen leichten Schubs. Das Ende einer Epoche, höre ich den Jungen sagen, als er die Tür hinter sich schließt.
    Das Ende, wiederhole ich, und die Worte hängen in dem leeren Haus.

ZW EI

D ie Frau ohne Hals schreit schon wieder. Ein fernes Summen, dann das leise Geräusch von weichen Sohlen auf dem dicken Teppich, die an meiner Tür vorbeieilen.
    Andere Geräusche dringen aus anderen Zimmern auf den Korridor. Die Schreie eingesperrter Tiere, wenn eins der ihren leidet. Ein paar Worte sind herauszuhören, wie Hilfe und hierher, aber es ist hauptsächlich auf- und abschwellendes Geschrei.
    Das ist schon einmal passiert, dieser Abstieg von einem Kreis der Hölle in den nächsten. Wie oft? An diesem Ort hier werden Tage zu Jahrzehnten. Wann habe ich die Sonnenwärme zuletzt gespürt? Wann ist zum letzten Mal eine Fliege oder eine Mücke auf meinem Arm gelandet? Wann konnte ich das letzte Mal nachts aufstehen und zur Toilette gehen, ohne dass jemand an meiner Seite auftaucht? Mir das Nachthemd bis zu den Hüften hochkrempelt. Mich so fest packt, dass ich hinterher nachsehe, ob ich blaue Flecken habe.
    Das Geschrei ist leiser geworden, hat aber nicht aufgehört. Also stehe ich auf. Ich kann dafür sorgen, dass es aufhört. Ein Medikament verordnen. Ein Benzodiazepinpräparat. Oder vielleicht Nembutal. Etwas gegen die Angstzustände, gegen den Lärm, der jetzt aus allen Richtungen kommt. Ich gebe einen aus! Eine Saalrunde! Alles, um zu verhindern, dass hier die Hölle losbricht. Aber Arme zerren an mir, nicht sanft. Ziehen mich auf die Füße, ehe ich so weit bin.
    Wo wollen Sie denn hin? Zur Toilette? Ich helfe Ihnen. Im schwachen Licht kann ich das Gesicht der Person kaum erkennen. Eine Frau, glaube ich, aber es fällt mir immer schwerer, das mit Sicherheit zu sagen. Weiße Unisexkleidung. Haare kurz oder streng im Nacken zusammengebunden. Teilnahmsloses Gesicht.
    Nein. Nicht zur Toilette. Zu dieser armen Frau. Ihr zu Hilfe kommen. Lassen Sie mich in Ruhe. Ich kann allein aus dem Bett aufstehen.
    Nein, das ist zu gefährlich. Das sind die neuen Medikamente. Die machen Sie unsicher auf den Beinen. Am Ende stürzen Sie noch.
    Dann lassen Sie mich eben stürzen. Wenn Sie mich schon wie ein Kind behandeln, dann behandeln Sie mich wie ein richtiges Kind. Lassen Sie mich selbst aufstehen, wenn ich hinfalle.
    Jen, Sie könnten sich verletzen. Dann würde ich Ärger bekommen. Und das wollen Sie doch nicht, oder?
    Ich heiße Dr. White. Nicht Jen. Verstanden? Und es wäre mir egal, wenn Sie gefeuert würden. Dann würde man jemand anders einstellen. Sie sind absolut ersetzbar.
    Dutzende von Leuten kommen und gehen, hellhäutige, dunkelhäutige, manche sprechen besser Englisch als andere, aber alle ihre Gesichter verschmelzen ineinander.
    Okay, also Dr. White. Kein Problem.
    Sie lässt meine Arme nicht los. Mit einem Griff, mit dem sie einen Zwei-Zentner-Mann in Schach halten könnte, zieht sie mich auf die Füße, legt eine Hand in meinen Rücken, die andere an meinen Ellbogen.
    Jetzt können wir zusammen gehen und nachsehen, was los ist, sagt sie. Bestimmt können Sie Laura helfen! Manchmal braucht sie wirklich Hilfe!
    Sie führt mich am Arm in den Korridor. Leute laufen ziellos umher wie nach einem Probealarm.
    Kaffee, sage ich. Schwarz.
    Kein Problem! Sie wendet sich an eine junge Frau in einem olivgrünen Kittel. Hier. Bringen Sie Jennifer in die Küche, und machen Sie ihr eine Tasse heiße Milch. Sorgen Sie dafür, dass

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