Ich darf nicht vergessen
Wie alt bist du?
Fünfundvierzig. Sechsundvierzig? In meinem Alter nimmt man das nicht mehr so genau.
Natürlich verheiratet.
Mit dir.
Stimmt. Und wie gehtâs den Kindern?
Na ja, von Mark hab ich dir ja schon erzählt.
Von dem charmanten, intelligenten, entzückenden Bengel. Richtig.
Meine Tochter ist ganz anders. Sie war ein geselliges, kontaktfreudiges Kind. Aber irgendwann hat sie sich vollkommen in sich zurückgezogen. Es heiÃt, das sei typisch für Mädchen in dem Alter. Und dass sie sich irgendwann wieder öffnen. Doch im Moment befinden wir uns mitten in den düsteren Jahren.
Das ist eine Sache zwischen Mutter und Tochter.
Ich schätze, ja.
Ich kann dir garantieren, dass das vorbeigeht.
Hast du hellseherische Fähigkeiten?
So was Ãhnliches.
Tja, das wäre auf jeden Fall etwas, worauf ich mich freuen könnte.
Du sagst das so traurig. Dabei hast du ein sehr abwechslungsreiches, sehr erfülltes Leben.
Die Vierziger sind für Frauen ein schwieriges Jahrzehnt, auch wenn das niemand freiwillig zugeben würde. Die Haare gehen aus, die Knochen werden spröde, mit der Fruchtbarkeit ist es vorbei. Das letzte Japsen eines sterbenden Geschöpfs. Ich kann es kaum erwarten, ins Jenseits zu gelangen. Eine Wiedergeburt.
Das hätte Amanda sagen können.
Ja, nicht wahr? Na ja, wir haben uns sehr nahegestanden. Da färbt mit der Zeit alles Mögliche ab.
Ihr wart schon ein einmaliges Gespann. Als ich klein war, dachte ich, alle Frauen wären wie du und Amanda. Wer mich nicht so behandelte, wie ihr es für richtig hieltet, der musste sich vor euch in Sicherheit bringen. Ihr wart wie zwei Racheengel.
Sie ist wirklich ein Original.
Ja, allerdings. Er schweigt einen Moment. Hat die Polizistin dich nach ihr gefragt?
Welche Polizistin?
Eine Frau, die Anfang der Woche hier war. Hat sie dich gefragt, ob Amanda Feinde hatte? Ob es jemanden gegeben hat, der danach trachtete, ihr zu schaden?
Ach, ich könnte mir vorstellen, dass eine Menge Leute einen Groll auf sie hatten. Das wäre jedenfalls normal. Sie ist schwierig. Du hast sie ja eben selbst als Racheengel bezeichnet. Darin ist sie unübertroffen: Sie entdeckt die Leiche, noch ehe sie anfängt zu faulen. Sie ist schneller als die Geier.
Das ist aber eine nette Art, über deine beste Freundin zu reden.
Sie würde es doch selber zugeben. Sobald sie bei jemandem Schwäche wittert, holt sie zum Todesstoà aus.
Während du es dir zur Aufgabe gemacht hast zu heilen.
Ich würde nicht sagen, dass ich mich deswegen für die Chirurgie entschieden habe. Das stimmt nicht so ganz.
Habt ihr beiden euch jemals gestritten?
Ein- oder zweimal. Einmal wäre unsere Freundschaft beinahe daran zerbrochen. Aber dann haben wir einen Waffenstillstand vereinbart. Die Alternative wäre zu schrecklich gewesen, um sie überhaupt nur in Erwägung zu ziehen.
Was wäre denn Schreckliches passiert, wenn ihr den Waffenstillstand nicht eingehalten hättet?
Für mich hätte es Einsamkeit bedeutet. Was es für sie bedeutet hätte, kann ich natürlich nicht wissen.
Das klingt aber eher nach einem Bündnis als nach einer Freundschaft. Wie ein Vertrag zwischen zwei Staatsoberhäuptern, die jeder eine schlagkräftige Armee im Rücken haben.
Ja, es war ein bisschen so ähnlich. Schade, dass sie keine Kinder hat. Dann hätten wir zwischen unseren beiden Häusern Ehen arrangieren können.
Eine Dynastie gründen.
Genau.
Ich hätte noch ein paar Fragen, aber du wirkst ziemlich müde.
Vielleicht. Ich habe den ganzen Tag operiert. Eine OP war besonders schwierig. Nicht in technischer Hinsicht. Es war ein kleiner Junge mit Meningokokkensepsis. Wir mussten ihm beide Hände amputieren.
Ich habe nie verstanden, wie du diese Arbeit machen konntest.
Der Vater war völlig verzweifelt. Er hat immer wieder gefragt: Und was ist mit dem Kätzchen? Er liebt sein Kätzchen so sehr. Er machte sich keine Sorgen darum, ob der Junge je wieder schreiben, Klavierspielen oder allein essen konnte. Was ihn fassungslos machte, war, dass er nie wieder das weiche Fell seines Kätzchens mit den Händen würde fühlen können. Ich habe ihm erklärt, dass andere Teile der Epidermis ebenso empfindlich sind, aber das hat nichts genützt. Wir mussten ihm fast dieselbe Dosis Beruhigungsmittel verabreichen wie dem Sohn.
So kann Trauer sich äuÃern. Ausgelöst durch scheinbar
Weitere Kostenlose Bücher