Ich darf nicht vergessen
Nebensächliches. Aber manchmal ist es das Einzige, zu dem man Zugang hat.
Keine Ahnung.
Ach?
Die Verluste, die ich im Leben zu beklagen hatte, waren minimal. Erträglich. Die waren schon klein genug, die brauchte ich nicht in kleinere Häppchen zu zerlegen, um sie verdauen zu können. AuÃer natürlich, als ich meine Eltern verloren habe. Meinen lieben Vater. Meine anstrengende Mutter. Da ist es mir gelungen, den Schmerz in Teile aufzuspalten und so den Schrecken von mir fernzuhalten.
Dann hast du also Glück gehabt.
Ich habe deinen Namen vergessen.
Mark.
Du kommst mir bekannt vor.
Das höre ich oft. Ich habe so ein Allerweltsgesicht.
Ich glaube, ich bin wirklich müde.
Dann gehe ich jetzt.
Ja. Mach bitte die Tür zu, wenn du rausgehst.
Der gutaussehende Fremde nickt, beugt sich zu mir, um mir einen Kuss auf die Wange zu geben, und geht. Nur ein Fremder. Warum fehlt er mir dann so?
Warte! Komm zurück!, rufe ich. Ich befehle es.
Aber es kommt niemand.
W enn ich einen klaren Tag habe, wenn sich die Wände meiner Welt ausdehnen, so dass ich ein bisschen nach vorne und ein bisschen zurückblicken kann, schmiede ich Pläne. Leider ziemlich stümperhaft. Wenn ich mir die Krimis ansehe, für die James sich so begeistert, bin ich jedes Mal beeindruckt von den Tricks und Winkelzügen, die die Drehbuchautoren sich ausdenken. Mein Plan ist ganz simpel: Zur Tür gehen. Warten, bis niemand hinsieht. Tür aufmachen. Rausgehen. Nach Hause fahren. Haustür verriegeln und verrammeln.
H eute betrachte ich das Foto, das ich ausgesucht habe. Auf der Rückseite steht klar und deutlich: Amanda, 5. Mai 2003. Meine Handschrift?
Auf dem Foto ist Amanda schlicht und zugleich streng gekleidet: Sie trägt einen schwarzen Blazer und eine Hose. Ihr dichtes, weiÃes Haar ist zu einem nüchternen Nackenknoten zusammengefasst. Sie kommt gerade von einer Sitzung, irgendwas Offizielles. In ihrem Gesicht spiegelt sich eine Mischung aus Triumph und Verwirrung. Die Erinnerung deutet sich an, dann kommt sie ganz langsam wieder.
Ich hatte eine Geschichte über sie gehört, und zwar von einer Kollegin im Krankenhaus, deren Sohn eine Schule in dem Bezirk besuchte, in dem Amanda arbeitete. Eine von vielen ähnlichen Geschichten, die man sich im Lauf der Jahre im Viertel zugeflüstert hatte.
Aber diese war anders, extremer. Es ging um einen Geschichtslehrer, der die 8. Klasse unterrichtete. Ein rechter Filou. Ziemlich stämmig und kleiner als einige seiner Schüler, aber trotzdem ein Charmeur. Dichtes, schwarzes Haar und dunkle Augen. Ein hübsches Gesicht und eine tiefe, erotische Stimme, mit der er unterhaltsame Geschichten erzählte über den Sturz von Regierungen, wiedergutgemachtes Unrecht, gerächte Untaten. Selbst Fiona, die mit dreizehn ihre Nullbockphase hatte, war von dem Mann und seinem Unterricht sehr angetan.
Die Eltern behielten ihn im Auge, vor allem in Bezug auf Mädchen, aber es gab nie auch nur den geringsten Verdacht auf unschickliches Verhalten. Er lieà immer die Tür zu seinem Klassenzimmer offen stehen, wenn er mit einem Schüler oder einer Schülerin allein war, nahm nie auÃerhalb der Schule per Telefon oder E-Mail Kontakt zu einem seiner Schutzbefohlenen auf. Niemals hatte er eine Schülerin berührt, nicht mal eine Hand auf den Arm gelegt.
Warum hatte Amanda ihn derart verabscheut? Vielleicht einzig und allein deshalb, weil er es sich als Lehrer leicht gemacht und auf Beliebtheit gesetzt hatte, anstatt auf die strengen und weniger populären Erziehungsmethoden, die Amanda bevorzugte. Dann, auf einen anonymen Hinweis hin, wurde sein Klassenzimmer von der Polizei durchsucht und auf seinem Computer pornographisches Material entdeckt. Es folgte ein Riesenskandal, obwohl keine Anklage erhoben wurde, da es sich um einen schuleigenen Computer handelte, der sich in einem unverschlossenen und für jeden zugänglichen Raum befand. Trotzdem verlieà der Lehrer die Schule. Ich vermute, dass er es nicht ertragen konnte, vor seinen Schülern nicht mehr als Held dazustehen. Kurz nachdem er gegangen war, kamen dann die Gerüchte auf. Dass er hereingelegt worden sei, dass das Ganze ein abgekartetes Spiel gewesen sei. Dass jemand, der Einfluss an der Schule besaÃ, ihn hatte loswerden wollen. Niemand erwähnte Amandas Namen.
Ich sprach sie auf die Sache an. Ich erinnere mich an den Tag, das Datum auf dem Foto. Sie war kurz auf
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