Ich darf nicht vergessen
hast nicht getrauert.
Das weiÃt du doch gar nicht, sage ich. Das weiÃt du nicht.
Letzteres habe ich ziemlich laut gesagt. Eine Frau in Lavendel, mit einem Abzeichen an der Bluse, geht an der offenen Zimmertür vorbei, schaut herein, sieht Fiona, zögert, geht weiter.
Ich war dabei, Mom. Oder willst du etwa behaupten, du hättest es alles auf dem zweistündigen Flug von Philadelphia nach OâHare rausgelassen?
An dem Tag habe ich meine Mutter nicht verloren.
Ich fange an, mich anzuziehen. Dazu muss ich mich konzentrieren. Das ist die Hose. Zuerst ein Bein, dann das andere. Das ist das T-Shirt. Drei Löcher, das gröÃte für den Kopf. Ãber den Kopf ziehen bis zum Hals. So.
Am Tag davor halt.
Nein. Ich hatte meine Mutter schon Jahre zuvor verloren.
Ich finde meine Schuhe. Slipper. Ich stehe auf, halte mich immer noch am Bett fest. Ich teste den Boden, befinde ihn für stabil, und richte mich auf. Ich bin komplett angezogen. Wo ist mein Koffer. Wo ist die Schwester.
Hier, kämm dir die Haare. Fiona reicht mir einen Kamm. Wie meinst du das?
Als meine Mutter starb, hatte sie uns schon längst verlassen. Ihr Gehirn war verfault. Die letzten acht Jahre ihres Lebens hat sie unter Fremden verbracht.
Ach so. Ja. Verstehe. Jetzt weià ich, wovon du redest.
Nein, das glaube ich nicht. Das kann man nicht wissen, wenn man es nicht selbst erlebt hat.
Fiona grinst schief. Und wie erlebst du es, Mom?
Als würden Termiten meine Gefühle fressen. Sie fangen am Rand an, dann arbeiten sie sich immer weiter vor, um ihr Zerstörungswerk zu vollenden. Berauben mich der Möglichkeit, mich zu verabschieden. Man denkt, morgen oder nächste Woche. Man denkt, man hätte noch Zeit.
Aber die Termiten ruhen nicht, und ehe man sichs versieht, kann man nicht mehr spüren, was man verloren hat. Die meisten Menschen überspielen das. Ich bin dazu nicht in der Lage. Daher keine Beerdigung. Daher keine Tränen.
Das kann ich mir nicht vorstellen.
Glaub mir, es ist so.
Vielleicht bei dir. Aber nicht bei mir.
Du glaubst, es könnte dir nicht passieren. Aber du weiÃt es nicht.
Doch, ich weià es. Und ich habe immer noch Gefühle. Ich fühle alles. Du hast ja keine Ahnung.
Na ja. Anscheinend nicht. Wie lautet noch dieser Spruch? Anderer Leute Sorgen sind leicht zu tragen. Es tut mir leid. Es tut mir leid für dich, dass du dich so quälst. Aber ich habe genug von diesem morbiden Gespräch. Ich will nach Hause. Gehen wir.
Ich suche nach meinem Koffer. Ich hatte ihn hier abgestellt. Neben dem Bett.
Nein, Mom.
Was soll das heiÃen, nein? Ich bin fertigâ gestern Abend habe ich schon alles gepackt.
Mom, du packst jeden Abend. Und jeden Morgen packen die Pflegerinnen deinen Koffer wieder aus.
Warum tun die das denn?
Weil du jetzt hier wohnst. Weil das hier dein Zuhause ist. Siehst du? Deine Sachen. Deine Fotos! Hier ist eins von uns allen am Tag von Marks Highschoolabschluss.
Ja, die Kinder fehlen mir. Sie sind irgendwann ausgezogen.
Mom, wir sind aufs College gegangen.
Es war interessanter, als sie noch im Haus waren. Ich habe versucht, es mir nicht zu Herzen zu nehmen, aber das war schwer.
Na ja, du hast hier viel Gesellschaft. Ich habe eine Menge Leute im Speisesaal gesehen, sie frühstückten gerade. Lachten und plauderten. Du musst allmählich auch rübergehen. Etwas essen. Dann geht es dir bestimmt besser.
Ja, aber jetzt muss ich nach Hause. Da kann ich auch frühstücken.
Aber du möchtest deine Gastgeber doch nicht beleidigen, oder?
Was für eine lächerliche Frage. Gäste hält man nicht gegen ihren Willen fest. Welcher Gastgeber würde sich so etwas erlauben? Lass uns einfach gehen. Die werden das schon verstehen. Ich schicke ihnen später eine GruÃkarte und bedanke mich. Manchmal muss man einfach auf Nettigkeiten verzichten.
Mom, es tut mir leid.
Was tut dir leid? Ich bin fertig.
Mom, ich kann nicht. Es geht einfach nicht. Du wohnst jetzt hier.
Nein.
Mom, du brichst mir das Herz.
Ich gebe die Suche nach meinem Koffer auf und gehe zur Tür.
Wenn du mich nicht mitnimmst, nehme ich mir eben ein Taxi.
Mom, ich muss jetzt gehen. Und du musst hierbleiben.
Sie weint, geht zur Tür, hebt den Arm, winkt der Frau, die eben hier durchgekommen ist. Ich brauche Hilfe.
Plötzlich sind mehrere Leute im Zimmer. Ich kenne sie nicht. Fremde Gesichter. Sie zerren an mir herum, hindern mich daran, Fiona durch die Tür
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