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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice LaPlante
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schützen.
    So wie du es getan hast.
    Was soll das heißen?
    Das soll heißen, dass auch du gelegentlich deine Brut geschützt hast. Auch über das Maß hinaus, das ein rational handelnder Mensch für vernünftig halten würde.
    Und woher wissen Sie das?
    Jennifer, wir beide kennen uns seit fast vierzig Jahren. So lange halten die meisten Ehen nicht. Es gibt nicht viel, was ich nicht über dich weiß. Was du getan hast. Oder zu was du fähig bist.
    Klingt langweilig. Wie die meisten Ehen. Sobald man alles über einen Menschen weiß, ist es meist an der Zeit, sich nach etwas Neuem umzusehen.
    Na ja, es gibt auch noch so etwas wie Zuneigung.
    Vielleicht.
    Und etwas Irrationales, was noch stärker ist. Liebe. Im Namen der Liebe tun Menschen die seltsamsten Dinge.
    Worüber reden wir eigentlich? Ich habe den Eindruck, dass wir vom Thema abgewichen sind.
    Also gut, zurück zum Thema. Wirst du Mark, deinem hypothetischen Sohn, verzeihen? Unter den Umständen, die ich dir eben beschrieben habe?
    Ich denke kurz darüber nach, versuche, ein Gefühl heraufzubeschwören, das stärker ist als die Verwirrung darüber, dass man mich bittet, etwas zu vergeben und zu vergessen, was ich längst vergessen habe.
    Nein, sage ich schließlich. Sie können mich noch einmal fragen, wenn ich weiß, über wen wir reden.
    Aber das wird womöglich nicht passieren. Du hast ja selbst gesagt, heute ist ein guter Tag.
    Stimmt, es wird womöglich nicht passieren.
    Könntest du zumindest versprechen, nichts zu tun, was ihm schaden würde?
    Das bedeutet, dass ich Macht über ihn habe.
    Ja, das hast du. Mehr, als du weißt.
    Da ich mich wahrscheinlich nicht an dieses Gespräch erinnern werde, wozu wäre es gut?
    Manche Dinge bleiben hängen. Versprichst du es?
    Hypothetisch verspreche ich, diesem Menschen, an den ich mich nicht erinnere, nicht zu schaden. Keinen Schaden zuzufügen. Wenn Sie wirklich Arzt sind, haben Sie diesen Eid ebenfalls geschworen. Es ist also ein Versprechen, das ich leicht geben kann.
    E ine Vision. Meine Mutter als junge Frau mit einem Peter Pan-Haarschnitt. Diese Frau, die ihr dunkles Haar immer lang getragen hat, tagsüber zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, abends offen, über die Schultern fließend, sogar während ihres langsamen Verfalls.
    Sie hat die Hände um etwas Kostbares gelegt. Sie trägt ihren Ehering nicht. Vielleicht ist sie noch gar nicht im heiratsfähigen Alter. Dabei hat sie meinen Vater mit achtzehn kennengelernt und geheiratet. Er war siebenundzwanzig, und beide Elternpaare protestierten, konnten sie jedoch nicht aufhalten.
    Aber dieses Bild ist so viel lebhafter als alles in meinem gegenwärtigen Leben. Die Farben so leuchtend, das rotbraune Haar meiner Mutter, ihr milchweißer Teint, die weiße, weiche Haut an ihren Armen und Schultern. Ich fühle mich ganz ruhig, während ich sie betrachte. Hoffnungsvoll. Als hielte sie meine Zukunft in ihren Mädchenhänden und als würde ihr Lächeln mir versichern, dass meine Geschichte doch noch ein glückliches Ende nehmen wird.
    I ch hatte nie Schuldgefühle. Ich habe nie Scham empfunden. Bis ich an diesen Ort gebracht wurde. Hände und Füße festgebunden. Ohne das Recht, meinen Darm hinter einer verschlossenen Tür zu leeren. Fegefeuer hat es einer meiner Mitbewohner genannt. Aber nein. Das würde ja bedeuten, dass man in den Himmel kommt, sobald man für seine Sünden gebüßt hat. Ich habe den Verdacht, dass dies eine Zwischenstation auf dem Weg zur Hölle ist.
    I ch war fünfzehn, mit Pickeln übersät und verknallt in Randy Busch. Ich war eine junge Mutter mit einem allgegenwärtigen Kind an meiner Seite– Mark klammerte sich an meinen Rockzipfel, bis er zehn war–, und dann war ich eine ältere Schwangere, die Tests über sich ergehen lassen musste, mit denen ausgeschlossen werden sollte, dass ich einen Mutanten austrug. Ich war keine sehr überzeugte Schwangere bei diesem zweiten Mal. Ich habe Fiona herausgepresst und bin eingeschlafen. Man musste mich wecken, damit ich ihr die Brust gab. Die ersten sechs Monate, die Koliken, die schlaflosen Nächte, diese Monate, die so wichtig sind für die Mutter-Kind-Beziehung, habe ich einfach nur über mich ergehen lassen.
    Nach zwei Wochen stand ich schon wieder im OP . Eine gefühllose Maschine, wenn man so will. Aber irgendwie wuchs mir meine Tochter

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