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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice LaPlante
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ich habe Wimperntusche gesehen, einen Lippenstift und Puder-Make-up. Mehrere Pinsel. Deborah meinte, es sah alles aus, als würde es viel gebraucht. Sie hat mir einen knallroten Lippenstift gezeigt, der halb abgenutzt war. Vor Schreck wäre ich beinahe von der Straße abgekommen. Ich hatte dich noch nie im Leben geschminkt gesehen. Nicht mal ansatzweise. Und dann liegt auf einmal ein knallroter Lippenstift in deinem Auto.
    Knallroter Lippenstift ist geschmacklos. Damals war ich doch schon um die Fünfzig. Das klingt wirklich zunehmend unwahrscheinlich, sage ich.
    Ja, ich konnte es auch nicht glauben. Es hat mich völlig verunsichert. So ähnlich, als hätte ich Dad dabei erwischt, wie er in einem von deinen Kleidern durchs Haus hüpfte. Mir wurde plötzlich klar, dass du Geheimnisse hattest. Dass es eine Seite an dir gab, von der wir alle nichts wussten. Eine geheime Welt, in der du Wimperntusche und knallroten Lippenstift trugst, um zu gefallen – ein Bedürfnis, das wir dir nie zugetraut hätten.
    Ah. Ja.
    Du erinnerst dich also.
    Ja, sage ich und verfalle in Schweigen. Es ist nur einmal in meinem Leben vorgekommen, dass ich auf diese Weise gefallen wollte.
    Und?
    Wie alt warst du?
    Wie gesagt, wahrscheinlich siebzehn.
    Ja. Das war in dem Jahr, als ich mit meiner Praxis in das Gebäude in der Racine Street umgezogen bin, das gerade fertiggestellt worden war. Ich habe die Aktenschränke und den Schreibtisch leergeräumt, alles in Kartons verstaut und die in mein Auto gepackt. Da war wahrscheinlich alles Mögliche aus meinem früheren Leben drin.
    Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?
    Ja, ich glaube schon. Das ist alles Geschichte. Vorgeschichte, soweit es dich betrifft. Dazu gibt es nichts zu sagen. Jetzt ist mir auch etwas eingefallen. Ich bin dran. Etwas aus ungefähr derselben Zeit. Als du siebzehn warst. Dieselbe Freundin. Deborah. Die Tochter eines Hausierers.
    Ja, das war schon damals deine charmante Art, sie zu beschreiben, weil ihr Vater einen Vertrieb für hochwertiges Kochgeschirr besaß. Ich weiß genau, was du als Nächstes sagen wirst.
    Nein, das glaube ich nicht.
    Du hast uns erwischt. In flagranti!
    Na ja, das war ja wohl kaum zu vermeiden! Mitten im Wohnzimmer, die Kleider überall verstreut, und so laut, wie ihr wart! Doch das war nicht wichtig. Viel interessanter fand ich, dass du dich, als du meine Schritte hörtest, umgedreht hast, fast als hättest du mich erwartet. Die Genugtuung stand dir ins Gesicht geschrieben, aber sie schlug sofort in Enttäuschung um, noch ehe du verlegen werden konntest.
    Und was willst du damit sagen?
    Du hattest einen anderen Zeugen erwartet. Ich schätze mal, deinen Vater.
    Warum hätte ich mir denn wünschen sollen, dass Dad uns erwischt?
    Ich weiß nicht. Damals ist irgendetwas zwischen euch beiden vorgefallen. Nachdem du das Praktikum bei ihm gemacht hast, kurz nach deinem sechzehnten Geburtstag. Als du in der elften Klasse warst. Bis dahin hattet ihr euch sehr nahegestanden. Und dann plötzlich herrschte dicke Luft. In dem Sommer seid ihr eines Abends von der Arbeit gekommen und habt kein Wort miteinander gesprochen. Und es hat Jahre gedauert, bis ihr euch wieder vertragen habt.
    Darüber würde ich lieber nicht reden.
    Nicht einmal jetzt?
    Nicht einmal jetzt.
    Falls es etwas mit einer Frau zu tun hatte– du brauchst keine Rücksicht auf mich zu nehmen. Ich habe immer alles gewusst. Es hat zwischen deinem Vater und mir nichts geändert.
    Tja, aber vielleicht warst du ja nicht die einzige Betroffene.
    Was soll das denn heißen? Wen außer mir hätte es denn interessieren sollen?
    Unsere Familie hatte noch zwei weitere Mitglieder. Zwei weitere Menschen, die verraten wurden.
    Nein. Also wirklich. Warum hätte euch das interessieren sollen? Er war doch immer noch euer Vater. Da hat kein Verrat stattgefunden.
    Nein, da nicht.
    Mensch, tu nicht so geheimnisvoll.
    Ach, komm schon, Mom. Selbst du musstest zugeben, dass die Tochter des Hausierers ein heißer Feger war. Hast du im Ernst geglaubt, Dad wäre das nicht aufgefallen? Und was hat er wohl versucht, nachdem es ihm aufgefallen war?
    Okay, er hat also deine Freundin angebaggert. Er hat alle Frauen angebaggert.
    Vergiss es.
    Oder hatte er Erfolg? Ist es das?
    Ich hab gesagt, vergiss es. Ich hätte wissen müssen, dass es zwecklos ist, mit dir ein Gespräch führen zu wollen. Es tut mir ehrlich leid, dass du dich an

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