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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice LaPlante
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Kopf. Im Lauf des Tages wird er immer konkreter.
    Beim Frühstück erinnert man uns daran, dass heute die Pfadfinderinnen kommen und wir Batistbeutelchen mit Lavendel füllen werden. Kleine Duftkissen. Ihre Kleider werden herrlich duften!, sagt die grauhaarige Frau begeistert. Heute funktioniert mein Gedächtnis wieder. Ich erinnere mich an Pfadfinderinnen, an ihre jungen Gesichter und ihr verkrampftes Lächeln. Wie gekünstelt sie sich ausdrücken. Sie sind in einem grausamen Alter. Sie rufen Fiona nicht an. Sie laden sie nicht zu ihren Partys ein. Sie ahnen gar nicht, wie sehr ich sie dafür hasse. Wie sehr ich auf Rache sinne.
    Etwas später kommen die Maler. Nicht, um die Farbe ein bisschen aufzufrischen. Alle Wege im großen Raum werden neu gestrichen, natürlich in Grün. Die Tür geht auf und zu, als sie ihr Material hereintragen, Farbeimer, Planen. Sie spannen ein Absperrband auf, an dem Schilder hängen mit der Aufschrift FRISCH GESTRICHEN .
    Das verhindert allerdings nicht, dass es Zwischenfälle gibt. Ein Neuer auf der Station taucht seine Hände in einen Farbeimer, schöpft eine Handvoll Farbe heraus und trinkt sie wie Wasser. Pfleger und Pflegerinnen stürzen schreiend auf ihn zu. Man ruft nach einem Arzt, die Pfleger packen den Mann an den Armen und zerren ihn zum Empfang. Das ist meine Chance.
    Ich gehe in mein Zimmer. Ich ziehe meine bequemsten Schuhe an. Ist es Sommer oder Winter? Warm oder kalt? Ich weiß es nicht, deswegen ziehe ich mir für alle Fälle eine zweite Bluse über. Falls Winter ist, wird es hart, aber ich werde es schaffen. Ich werde nach Hause fahren. Meine Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen. Sie machen sich immer Sorgen.
    Ich durfte keinen Führerschein machen. Ich musste heimlich Autofahren lernen, als ich schon am College war. Obwohl ich noch bei meinen Eltern wohnte, hat mein Freund mir auf dem Parkplatz von St. Patrick’s das Autofahren beigebracht und mich zur Prüfung begleitet. Beim Durchsuchen meiner Handtasche nach Verhütungsmitteln hat meine Mutter dann den Führerschein gefunden. Ein schrecklicher Verrat in ihren Augen, eine Todsünde, diese unerwartete Rebellion. Du sollst Vater und Mutter ehren. Das habe ich getan, das tue ich immer noch. Ich muss nach Hause. Ich eile zurück zum großen Raum, wo die Anstreicher verwirrt herumstehen. Keiner von ihnen spricht Englisch. Sie warten auf irgendetwas, auf irgendjemanden. Ich schiebe mich vorsichtig in Richtung Tür, unter der Deckung der Handwerker. Es wird laut an die Tür geklopft. Eine Pflegerin kommt gelaufen, tippt den Code ein, die Tür schwingt auf, und herein tritt ein Mann. Er ist wie die anderen ganz in Weiß, aber seine Sachen sind sauber, nicht mit Farbe bekleckert.
    Ich halte die Tür mit dem Fuß auf, kurz bevor sie zuschlägt. Ich schaue mich noch einmal um. Der Mann in den sauberen weißen Sachen spricht gerade mit der großen, grauhaarigen Frau und gestikuliert mit den Händen. Alte Leute drängen sich um die beiden herum, Pfleger und Pflegerinnen versuchen, die Alten wegzuzerren. Ich mache die Tür weiter auf, spüre die warme Luft. Zumindest brauche ich mir keine Sorgen wegen Erfrierungen zu machen. Noch ein Schritt, und ich bin draußen. Ich lasse die Tür hinter mir zufallen.

D R EI

G leißende Sonne. Wann bist du das letzte Mal so von ungefiltertem Licht bombardiert worden? Überwältigende Hitze, die Luft schwer und übelriechend von den Dämpfen des aufgeweichten Asphalts unter deinen Füßen. Bei jedem Schritt gibt er nach, macht ein dumpfes, schmatzendes Geräusch. Als würdest du auf einem teerigen Mond gehen.
    Vorsichtig bewegst du dich auf dem klebrigen, schwarzen Boden. Schweiß läuft dir am Hals herunter, dein BH ist schon klatschnass. Du bleibst stehen, um dir den Pullover auszuziehen, weißt aber nicht, wohin damit. Du hängst ihn ordentlich an die Antenne eines kleinen, in der Nähe geparkten blauen Autos und gehst weiter. Etwas treibt dich voran, das Gefühl, dass sich eine Verschwörung anbahnt, dass Blitze einschlagen werden, wenn du irgendwo zu lange stehen bleibst.
    Du befindest dich auf einem vollen Parkplatz mit Autos aller Marken, Typen und Farben. Welches ist deins. Bist du hier schon mal gewesen. Wo ist James, er hat die Schlüssel. Und deine Handtasche. Die musst du wohl im Krankenhaus vergessen haben. Dein Handy. Du solltest es dir implantieren

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