Ich darf nicht vergessen
Restaurants.
Die Wartezeit beträgt mindestens fünfzig Minuten. Soll ich Sie in die Liste eintragen? Sie können sich aber auch an den Tresen setzen.
Er scheint eine Antwort zu erwarten, also nickst du. Es scheint das Richtige zu sein. Er bedeutet dir, ihm zu folgen, und bahnt dir einen Weg durch die Menge. Er führt dich zu einem hohen Hocker und legt je eine Speisekarte auf den Tresen vor deinem Hocker und vor dem daneben.
Ich bringe Ihren Mann her, wenn er kommt, sagt er. Wieder nickst du. Gesten funktionieren prima. Du bist erleichtert, denn Worte sind flüchtig und unzuverlässig. Es scheint Monate her zu sein, dass du dich zuletzt mit jemandem getroffen hast. Wie ein Geist bist du durch die von Nachtschwärmern bevölkerten StraÃen gewandert, ungesehen und ungehört.
Du klappst die Speisekarte auf, wirst aber nicht schlau aus dem Inhalt. Penne allâArrabbiata, Linguine alle Vongole, Farfalle con Salmone. Aber die Wörter klingen gut, sie lassen dir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Seit wann hast du nichts mehr gegessen? Seit Tagen.
Die Leute sitzen dicht an dicht, einige haben volle Teller vor sich, andere Gläser unterschiedlicher Form und GröÃe, die mit bunten Flüssigkeiten gefüllt sind. Einige Leute verfolgen etwas auf einem Fernseher an der Wand, um den herum Regale mit Flaschen bis zur Decke reichen.
Auf dem Bildschirm zeigen junge, schöne Frauen in Abendkleidern auf Küchengeräteâ Kühlschränke, Mikrowellen. Es ist ein hübscher, ja faszinierender Anblick: die jungen Frauen in ihren bunten Kleidern, die über den Bildschirm huschen, das flackernde Licht, das sich in den Flaschen spiegelt.
Der Geräuschpegel ist hoch, aber nicht unangenehm. Du fühlst dich, als befändest du dich im Bauch eines Lebewesens. Die Kameraderie produktiver Bakterien der lebenserhaltenden Sorte.
Der Barmann kommt. Ein massiger Kerl mit einer dicken, schwarzen Brille. Er ist jung, aber er wird Probleme mit seinem Herzkreislaufsystem bekommen, wenn er nicht aufpasst. Das rote Gesicht hat er jedenfalls nicht von zu viel Sonne oder zu viel Sport. Um seinen dicken Bauch trägt er eine schmutzige weiÃe Schürze.
Unte wie kanne ische Innen elfen, schöne Signora?, fragt er mit einem gespielten Akzent, der wohl italienisch klingen soll. Du zeigst auf ein Gericht auf der Speisekarte, das mit dem kürzesten Namen.
Ah, die Pasta Pomodoro. Spessialitäte desse Auses! Unte zu trinkene? Du hast Durst, aber dir fällt das richtige Wort nicht ein. Etwas Flüssiges. Du zeigst auf die Flasche, die er in der Hand hält. Du testest deine Stimme.
Das da, sagst du und bist froh, dass es nur ein bisschen rostig klingt.
Jack Danielâs? Er vergisst seinen Akzent und lacht. Spontan, wie es scheint. Ein Tag voller Ãberraschungen! Pur? Du nickst. Er lacht wieder. Sehr wohl, ein Whisky pur. Ich nehme nicht an, dass Sie den mit einem Bier runterspülen wollen?
Du versuchst, aus seinem Gesichtsausdruck zu schlieÃen, was die richtige Antwort ist. Du nickst wieder. Doch? Okay. Welche Sorte?, fragt er. Wir haben Coors, Miller Lite und Sierra Nevada vom Fass.
Ja, sagst du. Etwas in seinem Gesicht ändert sich. Er schenkt dir einen Blick, der dich beunruhigt. Wachsam. Den Blick hast du schon mal gesehen. Du hast anderen noch nie etwas vormachen können. Du wirst immer erwischt. Das hält dich auf dem Pfad der Tugend. Nicht das Gewissen. Nein. Sondern das Wissen, dass du nicht lügen kannst und dass jede Untat bestraft wird.
Er wendet sich achselzuckend ab, macht sich an einer Maschine mit komplizierten Griffen zu schaffen und stellt dir dann ein groÃes, eisgekühltes Glas mit einer schäumenden, gelben Flüssigkeit hin. Was ist das. Wo bin ich. Plötzlich geht dir ein Licht auf. Du bist Jennifer White. Du wohnst in der Walnut Lane 544, in Germantown in Philadelphia, bei deinen geliebten Eltern. Du bist achtzehn Jahre alt und hast gerade mit dem Studium an der University of Pennsylvania angefangen, Hauptfach Biologie. Dein Leben liegt vor dir, ein klarer Weg, keine nennenswerten Hindernisse. Vor dir steht ein kühles Bier. Dein erstes in einem Restaurant! Du hast noch nie allein ein Bier bestellt. Du hast jeden Grund, unbeschwert zu sein. Und plötzlich bist du es auch.
Du bemerkst noch ein Glas neben deinem Ellbogen. Es ist kleiner und nicht kalt. Gefüllt mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Du nimmst es und trinkst
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