Ich denke, also spinn ich - warum wir uns oft anders verhalten, als wir wollen
Eindruck machten. Deshalb wiederholten die Kollegen um Moscovici das Experiment noch einmal – diesmal jedoch trug einer der Querulanten eine glasbausteindicke Brille und verhielt sich auch sonst eher sonderbar. Prompt schrumpfte sein Einfluss auf die Gruppe bis unter die Messbarkeitsgrenze. Die künstlichen Minderheiten konnten übrigens auch dann nichts ausrichten, wenn sich bereits eine starke Mehrheit gebildet hatte, die fand, dass das Dia – sagen wir – azurblau sei. Der sogenannte Minoritäts-Effekt, den Serge Moscovici damit entdeckt hatte, tritt also nur auf, wenn sich Minderheiten nicht durch atypisches Verhalten oder zuvor durch Zweifel an ihrer Kompetenz disqualifiziert haben. In allen anderen Fällen aber sollten Sie auf der Hut sein, wenn jemand, der allgemein als irgendwie souverän gilt, eine Meinung besonders vehement vertritt, bei der Sie sofort ein seltsames Grummeln im Magen-Darm-Trakt verspüren (siehe Mitläufer-Effekt).
D ER ABILENE-EFFEKT
Warum unser Denken und Handeln häufig auseinanderklaffen
Mit geradezu beängstigender Regelmäßigkeit lässt sich in Meetings beobachten, dass sich Menschen schwer damit tun, ihre Meinung zu äußern, wenn sie glauben, in der Minderheit zu sein. Insbesondere wenn der Boss einen Vorschlag gemacht hat, der, nun ja, reichlich durchgeknallt ist. Entweder wird es so still,dass man den Neonröhren beim Knistern zuhören kann – oder es sieht so aus, als wären sich alle einig, dass der Vorschlag durchaus annehmbar (weil von einem höheren Wesen) ist. Also hält man tunlichst die Klappe. Bloß nicht negativ auffallen, schon gar nicht als Abweichler und Querulant! Oder wie es der Kabarettist Dieter Nuhr formuliert: »Wenn man keine Ahnung hat – einfach mal die Fresse halten!«
Ganz falsch ist die Strategie nicht. Chefs schätzen es nicht besonders, wenn man ihr geistiges Ejakulat als das demaskiert, was es oftmals ist: als bloßen Ausdruck von Potenz. Minderheiten werden tatsächlich manchmal für ihre abweichende Meinung bestraft, mindestens mit bösen Blicken oder Kopfschütteln. Wahr ist allerdings auch, dass in dieser Haltung ein gewaltiger Denkfehler lauert. Wie andere denken, wissen wir ja erst, wenn sie dies öffentlich kundtun. Bis dahin bleibt es eine bloße Annahme. Die Wahrheit ist: Nur allzu oft interpretieren wir Schweigen als Einverständnis, mit dem Effekt, dass im Extrem alle schweigen und glauben, jeder sei dafür – in Wahrheit aber wollen alle das Gegenteil. In Fachkreisen ist dieses Phänomen auch als Abilene-Effekt bekannt. Er besagt, dass manche Entscheidungen nur so aussehen, als würden sie auf einem Konsens basieren. Tatsächlich aber steckt dahinter lediglich eine fehlerhafte, selektive Wahrnehmung, sodass am Ende Entscheidungen getroffen werden, die genau das Gegenteil von dem bewirken, was einmal beabsichtigt war.
Der Effekt ist ebenso kurios wie seine Namensgebung. Sie stammt von Jerry Harvey, einem Professor an der George-Washington-Universität. 1974 hatte sich Harvey mit seiner Frau und seinen Eltern in seine Heimatstadt Abilene im U S-Bundes staat Texas aufgemacht. Mit dem Auto ist das ein ziemlich langer Trip quer durch die USA. Trotzdem nahmen sie alle diese Bürde auf sich, weil jemand aus dem Familienkreis die Tour vorgeschlagen hatte – allerdings in der Annahme, dass die anderen dringend mal einen Tapetenwechsel bräuchten. Und natürlich dachten alle insgeheim an einen anderen in der Runde.Ein Trugschluss, wie sich bei der Rückfahrt herausstellte: Die Stimmung im Auto war ziemlich frostig, denn tatsächlich wären alle lieber zu Hause geblieben.
Harvey gab das mächtig zu denken. Typisch Professor eben. Und so forschte er weiter, um dem Phänomen schließlich seinen Namen zu geben und es zugleich auf klassische Managementfehler und Fehlentscheidungen in Meetings zu übertragen. Auch da, so seine These, werden Abstimmungen unter völlig falschen Annahmen getroffen. Die Anwesenden sind parteiisch, voreingenommen und tendenziös – jedoch in der Regel, ohne es zu merken. Das hat auch Olivier Sibony, Direktor im Brüsseler Büro der Unternehmensberatung McKinsey, kürzlich festgestellt. Zusammen mit Dan Lovallo, einem Professor an der Universität von Sydney und Forscher an der amerikanischen Berkeley-Universität, untersuchte er 1048 Entscheidungen von Konzernmanagern und stellte fest: Derlei Befangenheiten sind in den Chefetagen an der Tagesordnung. Oft werde nur darüber
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