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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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und wie es Zeit wurde, das Bajonett herauszuziehen, den bereits weit vorgedrungenen Kameraden durch neue Stacheldrahtlücken zu folgen und dieselbe Sache ein zweites- oder drittesmal zu tun. Was ich erzähle, sind nur die äußeren Folgen. Das innere, das Zermalmende und das prachtvoll Bestialische, das Barbarenglück, den Barbarenrausch, den beschreibt man nicht. Man kann ein Delir nicht mit Worten beschreiben. Man kann nicht die Worte in einem stillen Zimmer niederschreiben, und ein anderer, in einem anderen stillen Zimmer, für sich allein, die Zigarre im Mund, den Hund zu seinen Füßen, soll dies begreifen und dann wissen, wie einem dabei zumute ist.
    Einer für sich allein erlebt dies nicht. Ich habe es nur als einer in der Masse erlebt. Die Meinen waren vor mir, sie waren neben mir, sie waren hinter mir. Wenn einer fiel, die anderen waren immer noch da. Einer war am Ende, aber das Leben nicht. Ich war ein guter Stoßtruppführer, zu verbissen und wagemutig vielleicht, und ich hatte Verluste unter meinen Leuten, den Elitesoldaten. Mein Hauptmann, der mir das Eiserne Kreuz anheftete auf die linke Brustseite, hielt mich oft warnend zurück. Es trieb mich. Eines Nachts wurde ich durch eine verirrte Gewehrkugel verwundet. Im Distanzkampf hatte ich eben kein Glück. Lungenschuß. Keine Lebensgefahr, keine Folgen, keine Verkrüppelung. Wäre es nicht die unselige rechte Seite gewesen, wo ich noch die Rippenfellnarbe von meiner Verwundung als Kind hatte, wäre es eine Sache von ein paar Wochen gewesen. So mußte ich ins Hinterland. Was mir bei der etwas schwierigen Behandlung meiner Wunde auffiel, war, daß ich wenig Schmerzen fühlte. Es war die alte Stelle, ich hätte eigentlich mehr Schmerzen haben müssen als damals als junger Mensch. Ich spürte aber oft fast nichts. Meist sind Ärzte sehr empfindlich am eigenen Leib. Ich erntete viel Lob für meine Standhaftigkeit und nahm es phlegmatisch entgegen.
    Als ich genesen war, stand mir ein Erholungsurlaub zu. Aber ich wollte arbeiten. Erholung war unmöglich in dieser Zeit, Anfang 1918. Ich wollte Dienst leisten. Man durchforschte meine Personalpapiere und kam mit Staunen darauf, daß ich auch Spezialist in Geistes- und Nervenkrankheiten war. Man versetzte mich in eine Spezialanstalt für solche in P. in Norddeutschland, wobei man mich gleichzeitig außer dem ›Rang‹ zum Stabsarzt beförderte. Ich schrieb anfangs niemandem davon, und kein Brief erreichte mich. Dann kehrte ich allmählich zu meiner früheren Existenz zurück.
     
    Ich wurde dem Reservelazarett in P. zugeteilt und bekam hier zahlreiche Kriegskrüppel unter die Hände, aber nicht etwa Amputierte, sondern geistig Verkrüppelte, denen durch methodisches Turnen und durch ingeniöse Kunstglieder nicht zu helfen war. Es waren ebensoviel ›echte‹ Kranke da wie Simulanten, schwere Geisteskrankheiten im Anfangsstadium, Hysterie auf der Höhe, und ich konnte meine Studien aus der Zeit in Kaisers Anstalt fortsetzen.
    Draußen ging der Krieg an vielen Fronten mit unveränderter Heftigkeit, ja noch verzweifelter als früher, weiter. Manchmal schien es aber, als ob der Glaube an den Endsieg im Volk doch wankte. Die Durchbruchsversuche an der Westfront nach vieltägigem Trommelfeuer, das ein nervengesunder Mensch nicht ertragen konnte, geschweige denn ein nervöser, empfindlicher, ein Hysteriker, Neurastheniker, hörten nicht mehr auf. Sie kosteten ungeheure Opfer ›an Menschen und Material‹ und entschieden nichts.
    Es kamen Männer zu uns, die sich die Ohren zuhielten, weil sie das Dröhnen der schweren Mörser immer noch hörten, andere sahen die vorspritzenden Flammen der Flammenwerfer vor sich, andere schwankten, als ob die Erde bebte, und verkrochen sich in dunkle Winkel, Bettsäcke wie Sandsäcke vor sich aufstellend, um sich zu decken, andere taten kein Auge zu, andere verfielen in einen so schweren Schlaf, daß man sie zu den Mahlzeiten, zur Verrichtung ihrer Bedürfnisse wecken mußte, sie waren in einem Dämmerzustand, in einer Vertierung, einem Stupor, hatten nur noch das Vegetative des Menschen, ihre Seele war so entgeistert, daß sie nicht einmal klagten und weinten. Andere konnten die ›Schmach‹ nicht ertragen, weinten wie Kinder, verzweifelten, suchten sich das Leben zu nehmen. Mehr als einem gelang es, jetzt, da das Kriegsende nahe war.
    Ein großer Teil unserer Mühe, das heißt der Mühe der Ärzte, der das Lazarett kommandierenden Offiziere und der überarbeiteten Pflegemannschaften,

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