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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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ging dahin, die Kranken vor sich selbst zu schützen. Nicht allein jeden vor sich selbst, sondern auch die einzelnen Gruppen voreinander. Die unseligen Menschen hatten oft an dem überstandenen Krieg nicht genug, sie setzten ihn hier fort, gingen mit entmenschter Brutalität gegeneinander los, nachdem sie sich durch Stichelreden, meist politischer Art, bis zur besinnungslosen Wut erhitzt hatten.
    Ich konnte mich nicht um jeden Kranken meiner Abteilung kümmern. Ich habe mir bei den meisten bloß ein paar kurze Notizen gemacht, die ich später zu einer wissenschaftlichen Arbeit über die Kriegspsychosen verwenden wollte. Nur ganz wenige habe ich zu studieren, aus dem Seelengrunde zu verstehen, irgendwie zu behandeln, zu heilen versucht, unter ihnen einen von Schlaflosigkeit zermürbten, aufgeregten Kriegsblinden, einen Gefreiten des bayrischen Regimentes List, Ordonnanz beim Regimentsstab, A. H.
    Man hatte mich von zwei Seiten auf ihn hingewiesen, und zwar hatte ein Unteroffizier, ein ehemaliger Lokomotivführer aus Essen, dem der Saal, wo H. sich befand, militärisch zwecks Aufrechterhaltung von Ordnung und Disziplin unterstellt war, mir den Mann ans Herz gelegt. Ein anderer Unteroffizier, der für die Behandlung der Kranken in diesem Saal verantwortlich war, für die Verteilung der Medikamente, mit denen man sehr sparen mußte, für das Anlegen der Verbände (denn mehr als einer hatte körperliche Wunden neben den geistigen), hatte mich auf ihn als einen ewigen Störenfried, einen fanatischen Aufwiegler, Rädelsführer, Querulanten aufmerksam gemacht, den man disziplinarisch bestrafen müsse.
    Der Gefreite A. H. hatte angegeben, er sei durch eine Gelbkreuzgranate, welche die Engländer abgeschossen hatten, bei seinem letzten Patrouillengang vergast worden, seine Augen hätten wie glühende Kohlen gebrannt, er sei wie ein Blinder zurückgewankt mit seiner Meldung zum Regimentsstab, und dann habe man ihn alsbald ins Hinterland gebracht. Nun lag er aber nicht in einem der für die Vergasten hergerichteten Feldlazarett unter anderen Vergasten, deren Augen tatsächlich oft furchtbare Verätzungen durch das Giftgas, Senfgas und Blaukreuzgas davongetragen hatten, sondern er war bei uns unter den geistigen Kriegskrüppeln. Der Gefreite weigerte sich, sich die Augen von dem Unteroffizier behandeln zu lassen, weil, wie er von dem Lokomotivführer erfahren hatte, dieser Jude war. Judenhaß war so stark bei ihm, daß er sich weigerte, an einem Tisch zu essen, wo Juden aßen. Er wich ihnen aus und behauptete, sie am Geruch zu erkennen.
    Er schlief nicht. Nachts tappte er in seiner fieberhaften Unruhe durch die Korridore oder warf sich ruhelos auf seinem Lager umher. Die Zimmerkameraden mußten dann still sein. Sie durften nicht rauchen, denn er war Nichtraucher und vertrug den Rauch nicht, durften nicht trinken, denn der Geruch des Fusels bereitete ihm Übelkeit. Er war abstinent. Manchmal kam ihn die Lust an, mitten in der Nacht ein paar Freunde (es gab einige wenige, die fanatisch an ihm hingen) zu sich an sein Bett zu befehlen (trotz seines niedrigen Ranges hatte er sie in der Hand) und ihnen endlose Predigten über seine politische Überzeugung zu halten mit solchem Feuer, daß sie nachher ebensowenig schlafen konnten, wie er.
    Daß die anderen ein Recht auf Schlaf und Ruhe hatten, wie er es für sich so leidenschaftlich verfocht, kam ihm nicht zu Bewußtsein. Daß sie überhaupt Rechte hatten, wenn ihm etwas nicht recht war, hielt er für eine persönliche Beleidigung und empörte sich.
    Er hatte simple, aber einleuchtende Ideen und war so von ihnen durchdrungen, daß sich sein Kreis ständig vermehrte, der der Ruhefreunde im Saal aber ständig abnahm. Er, der Blinde, hatte im Geist ständig die Landkarte vor sich und entwarf oder zerstörte Reiche mit einem einzigen Wort.
    Die Deutsche Vaterlandspartei, ein letzter Versuch zur Wiedererweckung der Begeisterung von 1914, war 1917 gegründet worden. Sie wollte die einzige patriotische, echte vaterländische Partei sein und drückte dies schon in ihrem Namen aus. Es durfte keine Klassen, keine anderen Parteien mehr geben. Es gab auf Erden nur ein großes Volk, das deutsche, das von Gott gerechterweise ausersehen war, auf daß die Welt genesen sollte an ihm, es war der König unter den Völkern wie Christus unter seinen Aposteln, der Volkermessias des kommenden Geschlechts, das Herrenvolk dank der Geburt, kraft des Geistes seiner Kultur, aber noch mehr kraft des unbesieglichen

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