Ich - der Augenzeuge
den Mann aus der Umgebung von geistig Gestörten fortzunehmen und ihn unterzubringen in einem anderen Reservelazarett, wo er in der Umgebung von körperlich kranken, aber geistig unangegriffenen Menschen die Entwicklung der Dinge abwarten konnte. Ihn aber heilen? Wie sollte das möglich sein?
Es wäre im Sinne meiner alten Auffassung gewesen, daß man die Geisteskranken, die man nicht für dauernd heilen konnte, vor der Gesellschaft zu schützen habe. Aber noch viel mehr die Gesellschaft vor ihnen. Hier stand er lauter Menschen gegenüber, die aus dem geistigen Gleichgewicht gekommen waren. Auch ich war es und ich mußte noch viel erleben, bevor ich wieder zu dem Menschen wurde, der ich vor dem Krieg gewesen war.
Und wie stand es damit, die Gesellschaft vor ihm zu schützen? War er nicht gefährlich? ›Rücksichtslos, brutal‹, diese Worte kehrten bei ihm immer wieder. Ich habe mehr als einen Kranken seiner Art behandelt, ohne ihn freilich im Grunde zu ändern. Denn der Urgrund solcher Menschen, ihre Wandelbarkeit, ihre Unwahrhaftigkeit, ihre Unersättlichkeit, die Unkenntnis ihrer selbst, ihre Unfähigkeit, in einem anderen Menschen aufzugehen, ja auch nur das Minimum an Lebensrecht eines andern zu begreifen, ihr Undank, ihr egozentrisches Feuer, ihr Hunger nach Zärtlichkeiten und nach Aufsehen – das alles hätte nur ein Gott von Grund aus ändern können. Unsereins aber dünkte sich gottähnlich, immer noch.
Ich entsann mich noch der Wundertat des Judenkaisers an meinem Bette, als mir die gebrochenen Rippen durchs Brustfell gedrungen waren. Ich glaubte, den Gefreiten von den hervorstechendsten Krankheitsleiden befreien zu können, von seiner Blindheit, von seiner Schlaflosigkeit. Er stand allein, hatte nie ein Liebesgabenpaket bekommen, erhielt keinen Brief von der Familie, Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Frau oder Braut. Er hatte keinen wahren Freund, während des Tages hockte er schweigsam, mit geschlossenen Augen, seinen langgezwirbelten Polenschnurrbart über den Lippen, mürrisch in einem Winkel, und seine Gegner gingen vorbei und sagten: ›Sieh doch, wie der spinnt.‹ Er spann aber keinen hellen Schicksalsfaden, sondern nur einen schwarzen. Lachen hat man ihn nie gesehen, Humor war ihm ebenso fremd wie Ritterlichkeit. Außer seinen zwei, drei Gedanken war er blind für die Welt. Das einzige, was ihn interessierte, war die Politik, er brachte einen seiner Kameraden dazu, ihm die Zeitungen vorzulesen, er konnte nicht genug davon haben. Er faßte sie schnell und sicher auf. Er begriff das Wesentliche mit intuitivem Blick. Kaiser, Reich, Tradition, Grenzen imponierten ihm nicht.
Es gab damals noch Witzblätter, trübe, schwächliche Witze, auch groteske und grausame, alles, um über die trostlose Zeit hinwegzukommen. Er lehnte sie mit Entrüstung ab, und der Kamerad wurde es etwas müde, stets nur die politischen Neuigkeiten, im Grunde immer die gleichen, aus den Blättern der nationalen, der sozialistischen oder demokratischen Richtung vorzulesen. Aber der Gefreite setzte es durch. Mit verbissener Wut hörte er sich die Artikel der liberalen Blätter an. In manchen wurde dem Feind Gerechtigkeit zuteil, man wagte jetzt anzuzweifeln, was bisher als unumstößliche Tatsache gegolten hatte, daß nämlich Deutschland gegen seinen Willen in den Krieg hineingerissen worden sei. Er ließ sich das Blatt geben und zerfetzte es. Er wollte die Blätter nicht herausgeben, sondern sie an geheimem Ort verwenden. Die anderen Saalgenossen warteten aber schon auf das Blatt, und es entspann sich eine neue Schlägerei, bei der der Gefreite den kürzeren zog. Ein Artillerist jüdischen Glaubens kam, mit seinen schweren Stiefeln dröhnend und sporenklirrend, auf ihn zu, riß ihn an den Achseln hoch, sah ihm fest in die Augen, mit denen H. angeblich nicht sah, faßte dann H.s Kopf mit beiden Händen und warnte ihn, wenn er noch einmal Stunk mache, werde er ihm den Kopf so an die Wand schlagen, daß er es nie mehr vergesse. Dann zerrte er ihm die Papierfetzen aus den geballten Fäusten und ging davon. Er schlug den Kriegsblinden nicht. H. höhnte nur darüber. Er hätte, sagte er, an seiner Stelle anders gehandelt. Hilf dir selbst, so hilft dir Gott, war sein Wahlspruch, dem Stärkeren war alles erlaubt. Für den Gegner war auch die geringste Achtung zuviel.
Am gleichen Abend erzählte er seinen am Bettrand auf gepflanzten Kameraden, er habe es nie verstehen können, daß man gefallenen französischen Offizieren die
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