Ich - der Augenzeuge
deutschen Schwertes und der Gewalt. So sollte das deutsche Schwert zunächst alle Deutschsprachigen, Reinrassigen Europas unter der Fahne Alldeutschlands vereinigen, und dann sollte dieses geeinte Reich von 100 Millionen Europa und damit die ganze Welt beherrschen. Eine solche großartige Idee wäre 1914 noch annehmbar gewesen bei den ersten gewaltigen Siegen der Armee. Jetzt, als der Rückzug an der Westfront unaufhaltsam war, als Zehntausende von Menschen, besonders Kinder, Greise und Frauen, im Hinterland an Hunger, Frost und Entbehrungen zugrunde gingen, war sie absurd. Aber gerade das Absurde an ihr, das Wunder , gewann dieser Idee gläubige Anhänger. Aus einer politischen Richtung wurde eine Religion. Das war auch das Programm des blinden Gefreiten A. H. Aber als Gegenstück zu dieser göttlichen Sendung der Deutschen predigte er den Haß gegen die schwarze Pest, gegen die Urheber des Krieges (den er vorher gerade als den einzigen Weg zur Macht gepriesen hatte), gegen den ›Judt‹, wie er ihn in seinem österreichischen Dialekt nannte. Widerspruch duldete er nicht, sein Gefühl schwoll dann mit einem Male explosionsartig an, er heulte, krächzte, säuselte und flötete wie im Delir, und oft schrie er so stark, daß in den Nachbarsälen die Kranken trotz der Schlafmittel wach wurden. ›Dor Judt‹ war an allem schuld. Er sagte von ihnen, daß diese schwarzen Völkerparasiten planmäßig unsere unerfahrenen blonden Mädchen schändeten und dadurch etwas zerstörten, das auf dieser Welt nicht mehr gutgemacht werden könne. ›Verführt werden Hunderttausende von Mädchen durch krummbeinige widerwärtige Judenbankerte.‹ Aber damit war es nicht genug. Walter Rathenau war für ihn nur der teuflische Vertreter des jüdischen Weltkapitals, das sich gegen Deutschland verschworen hatte, nicht aber der große, kühle, erfolgreiche Organisator der deutschen Kriegswirtschaft, ohne den der Krieg schon Weihnachten 1914 verloren gewesen wäre. Nein, er war verloren worden, weil diese ›Judensau‹, nach der Obersten Heeresleitung der mächtigste Mann des Reiches, das Reich, das sich ihm anvertraute, verraten und verkauft hatte zum Zwecke des Gelingens der jüdischen Weltverschwörung. Juden säten jetzt im Hinterland und sogar an der Front das gefährliche, zersetzende Revolutionsgift, auf das die dummen arischen Massen hineinfielen. Er blieb dabei, der ›Judt‹ arbeite nicht, nähre sich nur von betrügerischem Schacher, kenne kein Recht, sondern nur Lüge, Betrug, Schwindel.
Man konnte ihm Gegengründe bringen, soviel man wollte. Alles war vergebens. Und dabei war er ein Mann von schneller Auffassung, er war klug. Wenn er log, glaubte er die Wahrheit zu sagen, und er ergriff die anderen durch seinen Idealismus, er rührte sie durch seine Schlichtheit, und viele folgten ihm ohne Kritik, wollten nicht nachdenken und noch einmal zu zweifeln beginnen. Wenn die einen ihm vorwarfen, er habe es trotz seiner angeblich so großen Tapferkeit und seiner großartigen Abenteuer nur zum Gefreiten gebracht (er behauptete, er habe als einzelner Patrouillengänger 12 oder 25 Franzosen ›verhaftet‹ in einer verlassenen Ortschaft an der Somme in einem Keller), so sahen die anderen in ihm einen ungerecht behandelten Heldensoldaten, ein Opfer der Willkür und Ungerechtigkeit, so sehr hatte er sich in ihr Herz hineingeliebt in seiner abgeschabten Litewka, die schweißige alte feldgraue Mütze schief auf dem Kopf.
Er terrorisierte die anderen, als gäbe es keinen anderen außer ihm, begehrte auf, verlangte immer einen Mann zu seiner Verfügung, der ihn in seiner Blindheit zu betreuen, anzuziehen, zu füttern, zum Spaziergang und auf den Abtritt zu führen hatte. Aber wir hatten kaum Pflegepersonal genug für die Tobsüchtigen. Die Majorität rächte sich an ihm, hänselte ihn, zweifelte sein Eisernes Kreuz Erster Klasse an. Er sollte den Zwischenraum zwischen den zwei Strichen der II mit Tinte ausgefüllt haben in seiner Stammrolle, um daraus eine I zu machen. Man wurde aus den Akten nicht klug, die Personalpapiere wurden oft flüchtig geführt. Man wollte ihn nicht ertragen und begehrte Ruhe. Man stieß ihn aus dem Bett heraus, wenn er nachts keine Ruhe geben wollte, man schüttete ihm Saccharin statt Salz in die Suppe, führte ihn irre, statt auf den Abtritt in den Vorraum der Offiziersmesse. Er war ja blind oder gab sich dafür aus. Die zwei Unteroffiziere gerieten einander in die Haare seinetwegen, und das beste wäre gewesen,
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