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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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demütig sie auf meine Liebkosungen wartete, so lauerte doch manchmal etwas wie Haß in ihren Augen, und ich merkte wohl, sie verzieh mir ihre Demütigung, die ich nie verlangt hatte, nicht.
    Wir konnten also keineswegs viel für die ›große Sache‹ H.s geben, selbst wenn wir es wollten. Aber Helmut lächelte von oben herab über mein Mißverständnis. Ich sollte eine bestimmte Summe Geldes, die, in einer kleinen oberitalienischen Stadt von unbekannten Gönnern zum Kampf gegen die bolschewistisch-jüdische Weltverschwörung gesammelt, bereitlag, übernehmen, und ich sollte sie als Vertrauensmann H.s hierhertransportieren. Ich gälte als Demokrat. Das würde die Mission sehr erleichtern, sagte er so zynisch, wie ich ihn nicht kannte. Aber auch er kannte mich nicht. Ich überlegte nicht lange, ich lehnte ab. Helmut konnte es nicht glauben und Angelika noch weniger. Er drohte, und ich sah, er fürchtete für mich üble Folgen. Aber ich blieb fest. Ich ging noch weiter, trat der demokratischen Partei wieder aktiv bei, denn es war mir bei der Rede des H. aufgegangen, es sei nicht mehr die Zeit für den wissenschaftlichen Beobachter des Weltuntergangs, für den objektiven Augenzeugen. H. war für rücksichtslosen Kampf, er war ein Soldat, ein wahnsinniger Soldat, aber Soldat. An Frieden, Waffenstillstand, Pardon, Verständigung dachte er nicht. ›Immer feste drauflos!‹ Alle Mittel waren recht. Der Angriff war nicht etwa die beste Verteidigung, sondern er war das Recht an sich. ›Das Volk sieht zu allen Zeiten im rücksichtslosen Angriff auf einen Widersacher den Beweis des eigenen Rechts‹, das war sein Wort.
    Konnten wir ihm auf der anderen Seite etwas Gleiches entgegensetzen? Wir konnten es nicht. Wir hatten uns in den Gegner zu sehr hineingelebt. Das war unsere tödliche Schwäche. Es fehlte uns die naive Brutalität ebenso wie die naive Sentimentalität, die Faust, die Träne und die Lüge.
    Man steigt zu der Masse nicht hinab, ohne sich der Skrupel und des Gewissens, die den einzelnen adeln, entledigt zu haben. Wir wollten mit den alten Methoden in einer neuen Zeit wirken, in der die Knechte zu Herren geworden waren und die Stärke alles war. Stark war, wer die meisten Stimmen hatte. Mit Wahrheit gewann man sie schwer. Ganz ohne Lüge kann keine Politik gemacht werden. Aber wir versuchten, mit dem geringsten Maß von Wahrheitsverschleierung auszukommen. Auf der nationalistischen Seite war keine Lüge groß genug. Ja, die Größe der Lüge, das nicht mehr Faßbare an Übertreibung und Schwindel sollte den Erfolg sichern. Und sicherte ihn. Seine fanatischen Lügen hatten Erfolg. Unsere Halbwahrheiten nicht.
    Ich besuchte noch eine Massenversammlung, aber diesmal, ohne ihm zu unterliegen. Ich hörte, wie er erzählte, es seien von den Sowjetjuden 30 Millionen Menschen langsam zu Tode gemartert worden. ›Und während jetzt in Rußland die Millionen dahindarben und dahinsterben, fährt der jüdische Minister Tschitscherin im Expreßzug und mit ihm ein Stab von 200 Sowjetjuden durch Europa und läßt sich Nackttänze vorführen.‹ Das Absurde war mit Händen zu greifen. Tschitscherin war uradlig, reinrassiger Russe, von ›Nackttänzen‹ war nie die Rede gewesen. Es konnte von 130 Millionen Russen nicht jeder vierte langsam zu Tode gemartert werden. Trotzdem oder eben deshalb glaubten es die Menschen, denn sie konnten sich nicht denken, wie jemand etwas so Teuflisch-Großartig-Stupides zusammenphantasieren konnte.
    Sie konnten sich aber gewiß ebensowenig vorstellen, wie ein Mensch, ein Oswald Schwarz II oder ein A. H., sich kraft des Willens zur Lüge zur Blindheit zwingen konnte, und doch hatten es beide getan, und beide hatten nur schwer sich unter der Übermacht meines Wollens als Arzt die Augen öffnen lassen.
    Nun hatte ich keine Macht mehr über den Mann auf der Tribühne. Ich mußte mich glücklich schätzen, wenn er keine hatte über mich. Ich habe oft in der ersten Reihe gesessen, habe seinen Blick fesseln wollen. Es war unmöglich. Er sah nichts.
    Der blinde Haß gegen den Juden kehrte immer wieder, es war der geheimnisvolle Kern seiner Seele. Ich wußte wohl, daß ich ihn zwar für immer von der hysterischen Blindheit, eine Zeitlang von der hysterischen Schlaflosigkeit, aber nicht eine Sekunde lang von dem Judenhaß geheilt hatte. War er vielleicht einem jüdischen Weib, einer ›Judt‹, verfallen gewesen in seiner Elendszeit als Vagant in Wien? War seine Reinheit freiwillig, war sie gemußt? Konnte

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