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Ich - der Augenzeuge

Ich - der Augenzeuge

Titel: Ich - der Augenzeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Weiß
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Selbst dann war die Gefahr groß, daß sie mich fingen und entweder sofort mit dem Gewehrkolben totschlugen oder mich im Lager zu Tode marterten, um den anderen Häftlingen ein abschreckendes Beispiel zu geben.
    Ich machte also den Weg bis in meine Gegend nicht in jener einen Nacht. Ich begann schon vom Vormittag des zweiten Tages an so großen Hunger zu empfinden, daß ich Birkenrinde kaute, vertrocknete Gräser und Farnkräuter. Hier und da lag etwas Schnee. Damit stillt man aber nur den Durst. Dennoch nahmen meine Kräfte nicht so rasch ab, wie ich gefürchtet hatte. Endlich sah ich im Morgengrauen das Moor vor mir. Ich kam vom Walde her, wo sich das kleine Elektrizitätswerk befand und wo jetzt noch Licht leuchtete. Der Motor schnurrte. Es roch nach Moos, nach Benzin und Öl. Sollte ich eintreten, den Maschinisten um ein Stück Brot, um eine Decke bitten? Ich hörte ihn in dem Steinschuppen hin und her gehen, und der Duft frisch gebrühten Kaffees bereitete mir große Qualen. Ich beherrschte mich aber und ging weiter. Zu den ersten und begeistertsten Anhängern H.s hatten die armen Torfstecher gehört, deren mit Teerpappe gedeckte Baracken ich als Junge bei meiner Wanderung im Moor gesehen hatte. Sie kannten mich als Arzt. Ich hatte einer alten Frau dort geholfen. Ich machte mich auf den Weg zu ihnen. Sie nahmen mich auf, als ich pochte, sie mußten ahnen, woher ich kam, da aller Wahrscheinlichkeit nach die ganze Gegend wußte, wohin man mich gebracht hatte. Sie taten aber anfangs, als wäre ich zu einem Krankenbesuch gekommen, und sprachen ganz unbefangen mit mir.
    Ich habe etwas später vieles verstanden, was mit meiner im Grunde gar nicht so wunderbaren Rettung aus dem Konzentrationslager zusammenhing. Die Torfstecher waren aber nicht im Spiel. Sie hatten den Arzt nicht vergessen, sie nahmen die Gefahr auf sich, selbst auf unabsehbare Zeit ins Lager zu kommen, als sie mich im Ehebett, das noch warm war, schlafen ließen, als sie mich ernährten, mich in ein landesübliches Gewand steckten und mich am nächsten Abend nach S. begleiteten. Ich hatte den Plan gefaßt, mich meinem Vater und Angelika zu zeigen und sie um weitere Hilfe zu bitten. Das Haus meines Vaters war aber dunkel und verlassen. Ich habe meine Kinder nicht gesehen.
    Die Torfstecher warteten draußen, sie waren nicht sehr erstaunt über mein Mißgeschick, sie nahmen mich wieder mit sich, wir gingen auf den kleinen Wegen durch das noch kahle Moor, an den zugefrorenen Osterseen wieder vorbei, wir setzten uns an das Torffeuer in der Hütte, tranken Kaffee, aßen Brot und berieten alles in Ruhe. Nachts brachen wir auf, und sie geleiteten mich auf kleinen Pfaden über das Gebirge an die österreichische Grenze. Sie konnten und wollten ihr Leben riskieren, ihre Freiheit. Ich hatte ihnen alles gesagt. Sie halfen mir, bemitleideten mich aber nicht. Geld konnten sie mir so gut wie gar keines geben. Alles, was ich bekam, war eine Silbermark. Es war rührend, daß sie sagten (es waren Vater und Sohn), zu danken hätten sie, sie seien mir das Geld ›übers Jahr› schuldig geblieben bei meiner Hilfeleistung ›für die Alte‹.
    In dem winzigen österreichischen Weiler jenseits der Reichsgrenze war kein Postamt. Ich mußte weiter ins Land, immer in Angst, einem österreichischen Gendarmen zu begegnen, der mich nach meinen Papieren fragen konnte. Endlich kam ich in ein größeres Dorf. Ich ging auf die Post, gab ein Telegramm an meine Frau in Bern auf, bezahlte es mit der Silbermark. Ich gab ihr an, wo ich war. Ich war sehr ungeschickt im Schreiben, ich stotterte, die vielen Martern hatten mir die Stimme verschlagen, und der Blutverlust, die lange Wanderung, der Hunger hatten mich hergenommen. Ich brauchte lange Zeit, um zu begreifen, daß ich nicht mehr im Lager war. Zwei Tage später kam meine Frau und löste mich aus dem Dorfwirtshaus aus, wo man mich auf Treu und Glauben, ohne einen Pfennig Geld, mit zerfetzten Kleidern aufgenommen hatte. Man ahnte wohl, daß ich geflohen war, man sah die Schrammen und Narben an meinem Gesicht und den Händen. Man lieh mir Kleider, einen Mantel, ein grobes, aber sauberes Hemd. Es waren gute Leute. Aber was mir unbegreiflich war, auch hier liebte man H. Man sehnte sein Kommen herbei, man wollte unter seiner Herrschaft leben. Sie sahen mich und mußten mein Schicksal sehen. Und dennoch sahen sie es nicht in ihrem fanatischen Glauben an H. Es ließ mich fast verzweifeln, als ich erfahren mußte, wie unbelehrbar die Menschen

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