Ich & Emma
Luft ist rein, also lass uns runterklettern und weitergehen. Du zuerst.”
“Nein,
du!”
“Himmel, Em. Ich hab keine Lust, immer alles als Erste zu machen. Warum kannst du nicht
ein einziges Mal
tun, was ich dir sage?” Aber ich steige schon von dem Ast nach unten. Ich bin jetzt so müde, dass ich fast glaube, mich nicht festhalten zu können. Ich muss wirklich schnell von diesem Baum runter. Sonst wird eine von uns fallen, soviel steht fest.
“Ich zuerst, na gut. Aber du darfst nicht warten, bis ich unten bin. Klettere
jetzt
los, Em.”
Das ist der Moment, der beim Klettern am wenigsten Spaß macht. Wenn man das letzte Stück hinunter springen muss. Ich glaube immer, dass ich mir ein Bein brechen werde oder so. Diesmal bin ich so müde, dass ich nicht springe, sondern mich einfach auf den Boden fallen lasse, das ist gar nicht so schlimm, wie ich gedacht hatte.
“He, Em, lass dich auch einfach fallen. Das ist klasse. Tut nicht weh, der Boden ist ganz weich.”
Nun ist Emma auch unten, und wir laufen weiter.
Währenddessen denke ich darüber nach, wie toll es wäre, wenn man einen Teppich aus weichen Kiefernnadeln zu Hause hätte. Von einer Wand bis zur anderen. Für Leute, die nicht in der Nähe eines Waldes wohnen, es aber gerne würden.
“Ich wusste es doch!” ruft eine Stimme hinter uns.
Emma und ich beginnen zu schreien und wirbeln herum. Und dort steht, mit einem komischen Grinsen im Gesicht, als hätte er gerade einen Wettkampf gewonnen, George Godsey, der Jüngste der Familie.
Emma scheint genauso erleichtert zu sein wie ich, weil George Godsey eher nervig als gefährlich ist.
“Geh nach Hause,
George.”
Sie klingt sehr böse und gibt ihm einen Schubs. Ich muss ein Lachen unterdrücken, weil das Harz auf ihren Händen an seinem T-Shirt klebt und er wie an einem Gummiband zurückgezogen wird.
“Ihr könnt mich nicht zwingen.” Echt, er klingt wie ein Dreijähriger. “Und überhaupt ist das mein Wald, darum muss ich nichts tun, was ihr sagt.”
“Werd erwachsen, George Godsey”, sage ich.
Emma und ich laufen weiter, aber uns ist klar, dass George uns nicht in Ruhe lassen wird. Seine Brüder drangsalieren ihn ständig, seine Eltern ignorieren ihn völlig, und seine Freunde, nun, die scheinen gar nicht zu bemerken, ob er da ist oder nicht. Deswegen sind zwei Mädchen, die durch “seinen” Wald spazieren, ein regelrechter Glücksfall für ihn.
“Was macht ihr hier überhaupt?”
George hat die wirklich ärgerliche Angewohnheit, das Wort ü
berhaupt
in so ziemlich jedem Satz zu benutzen. Das macht mich total verrückt.
“Nix!” sagen Emma und ich gleichzeitig.
“Und warum seid ihr ü
berhaupt
so weit von zu Hause weg? Los, sagt’s mir!?”
“Geht dich nichts an”, meint Emma.
“Wohl!”
“Nein.”
“Leise! Wir dürfen nicht so laut reden.” Damit meine ich hauptsächlich Emma, aber George sollte auch vorsichtig sein.
“Wohin geht ihr?” flüstert George.
Wenn wir ihn einfach ignorieren, dann wird ihm vielleicht langweilig und er trottet zurück nach Hause. Ich sehe, dass Emma dasselbe denkt.
“Ach, kommt schon”, jammert George. “Was ist los? Wenn ihr es mir sagt, verrate ich euch was. Was ganz Geheimes.”
Wir halten den Mund und laufen weiter.
“Das ist echt gut. Ihr glaubt gar nicht, wie gut es ist. Kommt schon. Sagt mir, was los ist, warum ihr hier seid. Sagt’s mir. Ich geh euch auf die Nerven, bis ihr es mir verratet. Sagtschonsagtschonsagtschon ….”
“Na gut!” Emma dreht sich um und hält ihm den Mund zu. Bevor sie zu reden beginnt, zwinkert sie mir zu. Das Problem ist aber, dass sie gerade erst gelernt hat, zu zwinkern, und daher sieht George, wie sich eine Seite ihres Gesichts zusammenzieht und stöhnt unter ihrer Hand.
“Das habe ich gesehen!” sagt er durch ihre Finger. Vorsichtig nimmt sie ihre Hand weg und kommt mit ihrem Gesicht ganz nah an seines.
“Sei besser still, George Godsey”, erklärt sie sehr langsam und leise. “Also, wenn du
wirklich
wissen willst, was los ist, dann schwöre, dass du uns niemals bis in alle Ewigkeit verrätst …” George nickt heftig, seine Augen fallen ihm praktisch aus dem Kopf wie in einem Zeichentrickfilm. “Niemals! Verstehst du?”
Ich kenne Emma gut genug, um zu wissen, dass sie ihm nicht verraten wird, was
wirklich
los ist und bin mindestens genauso gespannt darauf, was sie sagen wird wie George.
“Schwörst du?”
“Ich schwöre.” George hebt seine rechte Hand, als ob dadurch der
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