Ich & Emma
“Was habe ich heute ausgelegt, meine Süße?”
Ich atmete den Geruch noch einmal tief ein, nur um sicherzugehen.
“Industrie!” verkündete ich, und Daddy setzte diesen überraschten Gesichtsausdruck auf.
“Ich fass’ es nicht! Du hast schon wieder hundertprozentig Recht! Hast du das gehört, Lib? Unser Mädchen hat’s schon wieder gewusst!”
Und dann drückte er mich ganz fest und setzte mich vorsichtig ab wie auf einen Boden aus Watte.
Wenn Daddy dermaßen gute Laune hatte, dann wirbelte er Mama durch den Raum, als wären sie in einem Tanzlokal. Sie sah so hübsch in Daddys Armen aus, wie sie sich drehte und ihr Kleid sich bauschte.
Und dann wirbelte er mich herum und ich fühlte mich wie eine Ballerina, elastisch und zart, groß und anmutig.
“Du bist meine kleine Prinzessin”, sagte er. “Daddys kleine Prinzessin.”
Inzwischen ist es dunkel, ich liege flach auf dem Rücken im Schmutz und starre hinauf in die Sterne. Derselbe Schmutz, der vorhin noch von der Sonne gebacken wurde, ist nun eiskalt. Im Haus ist es still, aber die Lichter sind noch an.
“Psst”, zische ich Emma zu.
“Was?” wispert sie zurück.
“Was glaubst du, was jetzt passiert?”
“Woher soll ich das wissen?”
“Glaubst du, Mama kommt zu uns raus?”
“Nein.”
“Nein?” Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass Mama nicht nach uns sehen könnte. Um ehrlich zu sein, setze ich meine ganze Hoffnung in sie. “Wieso nicht?”
“Wenn sie zulässt, dass er uns ankettet, dann lässt sie so ziemlich alles zu.”
Da hat sie nicht Unrecht.
“Was ist mit Essen?” frage ich. Wie schon gesagt, hin und wieder ist Emma wie eine ältere Schwester, weil sie manches besser kennt als ich. Und Richard kennt sie.
“Ich würde nicht damit rechnen.”
“Die lassen uns also
verhungern?”
“Alles ist möglich.”
“Wir brauchen einen Plan”, flüstere ich nach ungefähr drei Sternschnuppen erneut. “Irgendwie müssen wir hier wegkommen.”
Emma antwortet nicht.
“Emma! Hör doch zu. Gemeinsam kommen wir hier weg.”
Stille.
“Worüber denkst du nach?” frage ich etwas später.
Wieder keine Antwort.
“Em?”
“Warum hältst du nicht einfach den Mund.” Ich muss gestehen, das klingt überhaupt nicht freundlich.
“Denkst du über einen Plan nach?”
“Nein, tue ich nicht! Wegen einem
Plan
sitzen wir überhaupt erst in der Klemme. Wegen einem
Plan
ist jetzt alles vorbei. Du und deine tollen Ideen.
Lass uns weglaufen. Wir können es schaffen. Er wird uns niemals finden.
Hätte ich bloß nie auf dich gehört. Das ist es, was ich denke, wenn du die Wahrheit wissen willst.”
“Du hast doch als Erste angefangen zu packen!”
“Aber nur, weil du weglaufen wolltest.”
“Niemand hat dich gezwungen, mitzukommen. Außerdem hab ich das nur für dich getan.”
“Nun, und ich hab es für
dich
getan”, sagt sie unter Tränen.
“Für dich wär’s ja in Ordnung gewesen, bei Mama und Richard zu bleiben. Wo ihr immer eure Geheimnisse hinter der verschlossenen Tür habt. Ich hätte wissen müssen, dass du auf
seiner
Seite bist …”
Ich habe noch nicht zu Ende gesprochen, als sie sich auf mich wirft, an meinen Haaren zerrt und mir ins Gesicht schlägt. Ich schlage zurück, will sie rücklings auf den Boden drücken, aber die Kette hat sich so verdreht, dass wir beide gewürgt werden. Wir husten, ich zerre an der Kette, um etwas Luft zu bekommen, als ein großes Dreieck aus Licht auf uns fällt.
“Was zur Hölle ist da los?”
Ich spüre, wie ich mir schon wieder in die Hose mache, aber wenigstens wärmt mich das. Emma und ich sind ganz still, damit er wieder weggeht.
“Du musst ganz still liegen, wenn du willst, dass sie kommt. Wenn du dich hin- und her wirfst, verschreckst du sie.”
“Aber woher weiß sie, dass ich ihn verloren habe?”
“Die Zahnfee weiß immer, wann kleine Kinder einen Zahn verlieren.” Daddy zwinkerte mir lächelnd zu. “Das steht im Handbuch der Zahnfee.”
“Ganz ehrlich?”
“Ganz ehrlich.” Er steckte die Bettdecke direkt unter meinem Kinn fest, so, wie ich es mochte.
“Also, lieg still und schlaf sofort ein, und wenn du aufwachst wird eine glänzende Münze unter deinem Kopfkissen liegen, wo jetzt dein Zahn ist. Gute Nacht, Prinzessin.”
“Nacht, Daddy.”
Das kalte Wasser lässt uns nach Luft schnappen. Es dringt durch unsere Kleider wie Daddys Blut in den Boden sickerte, wo er starb.
“Vielleicht gebt ihr jetzt Ruhe”, sagt Richard, der jetzt leere
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