Ich & Emma
Leid, Sir”, bringe ich heraus. “Ich habe gerufen, aber Sie haben nicht geantwortet. Ich brauche eine Briefmarke, um diesen Brief an meine Oma zu schicken. Der muss heute noch zur Post, bevor sie schließt, und Sie waren nicht da, und da dachte ich, ich schau mal, ob irgendwo eine Briefmarke rumliegt, aber ich hätte sie nicht geklaut. Ich zahle es ihnen zurück, versprochen, ich …”
“Jetzt mal ganz langsam, kleine Memme.” Er spuckt den Kautabak in die Plastiktasse, die er immer mit sich herumträgt. “Ich geb’ dir deine Briefmarke, damit hier wieder Ruhe und Frieden einkehrt.”
Er humpelt zu der Anrichte, durchwühlt die drei Schubladen und hält mir schließlich eine brandneue Briefmarke hin.
“Hier hast du sie. Nimm. Du brauchst mir nix zurückzuzahlen, wenn du mir sagen kannst, was das für ein Gesicht auf der Briefmarke ist.”
Das Gesicht mit dem dunklen Bart kommt mir bekannt vor. “Abe Lincoln?” frage ich ganz leise, für den Fall, dass ich mich irre.
“Bingo!” ruft er. “Der Mann, der dieses Land in die Knie gezwungen hat. Schätze, du wirst alles über den Bürgerkrieg in der Schule lernen, deswegen fang’ ich erst gar nicht damit an. Außerdem will ich jetzt mein Haus wieder für mich haben, hatte einen harten Tag, also verschwinde zum Postamt.”
“Danke, Mr. Wilson!” Beim Gehen lecke ich bereits an der Rückseite der Briefmarke und klebe sie auf den Umschlag, den ich von Mr. Tylers Tisch stibitzt habe, bevor ich das Chemielabor verließ. Der war nämlich viel zu beschäftigt mit Alver Quinten, der zugegeben hat, die Glasplatten verschmiert zu haben, aber nur, weil Odie Rice auf ihn gezeigt hat, als Mr. Tyler danach fragte.
Wie Orla Mae sagte, führt die große Straße direkt zum Postamt, und ich komme noch lange bevor es schließt dort an. Mein Mund wird ganz wässrig, als ich an dem Glas mit Bonbonstangen vorbeikomme, aber ich gehe weiter, ich habe ja sowieso kein Geld dafür. Außerdem wäre Emma ziemlich sauer, wenn ich ohne eine für sie nach Hause käme, insofern ist es sowieso besser.
An dem Mann hinter dem Schalter hängen seine Kleider wie an einem Bügel. Er sagt nichts, streckt nur seine knochige Hand mit den knotigen Fingerknöcheln aus, hält den Brief direkt vor seine dicken Brillengläser und schielt auf die Adresse und die Briefmarke. Dann legt er ihn sorgfältig in ein Kästchen mit der Aufschrift “Ausgang”. Schließlich wendet er sich mir zu und wartet.
“War’s das?” frage ich. Ich dachte, es wäre viel schwieriger.
Er nickt bedächtig.
“Danke”, murmle ich höflich, obwohl ich kaum glaube, dass er mich hört.
Nun müssen wir nur noch abwarten.
Auf dem Heimweg fühle ich mich ein wenig leichter, doch schon als ich an Atone’s Laden mit dem ausgeblichenen “Geschlossen-Schild” in der Tür vorbeigehe, denke ich, dass ich besser geschrieben hätte: “Sag Mama nichts von dem Brief.” Sie wird durchdrehen, wenn sie hört, dass ich Oma gebeten habe, zu kommen. Was soll’s, meine Tracht Prügel bekomme ich so oder so, also ist es egal.
10. KAPITEL
“D ein Glück, dass ich heute zu viel zu tun habe, kleines Fräulein”, knurrt Mama, “ansonsten würde ich dir den Hintern versohlen, dass dir Hören und Sehen vergeht. Los, bring jetzt den Teppich nach draußen und klopfe ihn anständig aus. Danach füllst du den Eimer und hilfst mir, den Boden zu wischen.”
Mama war ganz überrascht über Omas Anruf. Nachdem sie das Telefon aufgelegt hatte, brüllte sie nach mir, und da war mir klar, dass es Oma gewesen sein musste. Emma und ich gingen ihr den ganzen Tag so gut es ging aus dem Weg.
Oma hat also meinen Brief bekommen und sofort angerufen, um zu sagen, dass sie und Tante Lillibit uns besuchen wollen. Nun, ich weiß zwar nicht sicher, ob sie Mama von meinem Brief erzählt hat, aber Mamas Stimme klingt seit zwei Tagen so böse, dass es wohl so ist. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich froh darüber, dass es so viel im Haus zu tun gibt. Mama macht einen Riesenwirbel wegen Oma. Sie hat sogar die Dose mit dem Bild von Herrn Erdnuss ausgepackt.
Herr Erdnuss mit seiner Brille, dem Spazierstock und dem breiten Lächeln ist das Tollste, was ich je gesehen habe. Mir gefällt es, dass seine dünnen Beine so aussehen, als würden sie jeden Moment lostanzen. Und ich mag seinen schicken Hut. Die Leute hier putzen sich nie fein raus. Mama hat ein wirklich hübsches Kleid, aber sie trägt es fast nie, sie sagt, sie sähe darin aus, als wäre sie
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