Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich & Emma

Ich & Emma

Titel: Ich & Emma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Flock
Vom Netzwerk:
darf. So, und jetzt lauf. Zeig deiner Mutter, wie sauber du aussiehst.”
    Ich schließe die Augen und muss an das blinde und taube Mädchen Helen Keller denken, über die wir in der Schule etwas gelesen haben. Denn ich spüre, wie ich aussehe, ohne in einen Spiegel sehen zu müssen.
    “Das ist so kurz wie bei einem Jungen!” Dann kommen die Tränen wieder, als ob sie überhaupt nie getrocknet wären.
    “Psst, jetzt.” Oma schiebt mich wieder zur Seite, damit sie aufstehen kann. “Du siehst gut aus. Los … ich muss mich ums Essen kümmern.”
    “Was gibt es denn?”
    “Nichts, wenn du nicht aufhörst zu heulen”, blafft sie mich an. “Du machst jetzt das Zimmer sauber, dann kommst du runter und hilfst mir.”
    “Und warum schneidest du Emma nicht das Haar?” brülle ich ihr hinterher, aber sie ist schon auf der Treppe. Es ist nicht fair, dass Emmas Haar nicht abgeschnitten wird.
    “Psst, kleines Mädchen”, sagt er und streichelt mir übers Haar. “Still jetzt. Du hattest nur einen schlimmen Traum. Ich bin doch hier. Psst …”
    “Daddy”, hauche ich in mein Kopfkissen und atme schwer. “Ich sehe es noch immer.”
    “Immer noch dasselbe?”
    “Ja, dieses klitzekleine Haus, in dem ganz viele Regalböden an die Wand genagelt sind. Auf denen sitzen Reihen und Reihen von Hühnern …”
    “Psst”, sagt er wieder.
    “ … und die haben alle Säcke über den Köpfen, aber man kann sie noch immer gackern hören. Sie gackern und gackern. Es ist so laut …”
    Er streichelt mir wieder und wieder durch mein langes Haar. Und dann ist plötzlich Morgen.
    “Wenn du mich fragst, lässt nur weißer Abschaum ein Kind so rumlaufen”, sagt Tante Lillibit zu Oma. Sie glauben, dass wir sie nicht hören, weil wir mit unseren Muscheln beschäftigt sind, die ich gesammelt habe, als Daddy noch lebte und wir einmal einen Tag am Strand verbracht haben.
    “Dieser Mann wird sie irgendwann umbringen, wenn sie nicht spurt”, fährt Tante Lillibit fort.
    “Ich habe versucht, mit ihr darüber zu sprechen, aber leider hört sie nicht auf ihre Mutter. Das hat sie nie. Und das wird sie wohl auch nie.”
    “Hast du die Wunde an ihrem Hinterkopf gesehen? Sie darf ihm nicht immer widersprechen. Und diese Caroline kommt ganz nach ihrer Mutter, wenn du mich fragst. Sie hat auch so eine Beule am Kopf. Sie und ihre Mutter sollten sich ein Beispiel an Emma nehmen und sich rar machen.”
    “Still jetzt”, sagt Oma. “Das reicht.”
    “Warum sind Sie abends nie da?”
    Mr. Wilson sitzt in seinem Lehnstuhl, der eigentlich besser ins Haus als auf die Veranda passen würde, und schnitzt an einem Stück Holz wie oft, wenn er nachdenken will.
    “Woher weißt du, dass ich abends nicht hier bin?”
    Ich zucke mit den Schultern, aber weil er nicht hochsieht, füge ich hinzu: “Ich weiß es einfach. Wohin gehen Sie?”
    Er dreht das Holzstück in seiner großen Hand und betrachtet es, als würde er es zum ersten Mal in seinem Leben sehen.
    “Ein Mann kann sein Leben lang schnitzen”, sagt er zu dem Holz. “Und trotzdem kein Stück besser werden. Wusstest du das? Normalerweise wird man immer besser und besser, wenn man etwas oft genug tut. Aber nicht bei der Schnitzerei. Da kann man sein Leben lang so schlecht bleiben wie ein Anfänger, wenn es so sein soll.”
    “Was meinen Sie mit ‘wenn es so sein soll’? Woher weiß man, wie etwas sein soll?”
    “Man weiß es einfach.” Er zuckt die Achseln, und plötzlich kann ich mir vorstellen, wie er als Junge ausgesehen hat, bevor das Alter Falten in seinem Gesicht hinterlassen hat. “So wie du zum Beispiel schießen kannst. So soll es wohl sein. Und wie ich Gitarre spiele. Ich geniere mich nicht zu sagen, dass ich das gar nicht schlecht mache. So, wie es eben sein soll.”
    Und so sitzen wir da. Meine Beine lasse ich seitlich über die Veranda baumeln. Während die Holzspäne auf den Boden fallen, denke ich darüber nach, was so sein soll und was nicht.
    “Sie haben mir nicht gesagt, wo Sie abends hingehen.”
    “Wenn es dich was angehen würde, würde ich dir erzählen, dass ich abends bei Zebulon’s Musik mache. Aber es geht dich nichts an, und deshalb erzähle ich es dir auch nicht.”
    “Kann ich Sie da mal spielen sehen?”
    “Wenn du magst. Hilfst du deiner Mama abends nicht im Haushalt?”
    “Was ist Zebooflan, oder wie das heißt?” Das ist ein Trick, den ich von Orla Mae gelernt habe. Wenn man eine Frage mit einer Frage beantwortet, gewinnen alle

Weitere Kostenlose Bücher