Ich & Emma
aber soweit ist es noch nicht ganz.
“Du musst das nicht verstecken, Carrie.” Sie schiebt die Brille höher. “Ich habe es schon die ganze Woche gesehen. Was ist passiert?”
“Nichts, Ma’am.” Ich verdecke mit einer Hand das, was der Ärmel nicht verdecken kann.
Wir sehen uns an, warten, wie das Gespräch weitergehen wird.
Sie bricht das Schweigen zuerst. “Hast du so was Ähnliches auch noch woanders?”
“Nein, Ma’am.”
Sie legt den Kopf schief und scheint zu überlegen, ob sie mir glauben soll oder nicht.
“Nun, Carrie …” Sie räuspert sich erneut und deutet auf Freddy Spragues Platz, also setze ich mich, und sie quetscht sich auf den Stuhl daneben. “Vielleicht wirst du es mir nicht glauben, aber ich war auch mal so alt wie du. Ich weiß, wie es ist, wenn man … äh …in einer schwierigen Familie lebt. Ich hatte auch so meine Kratzer, das kannst Du mir glauben.”
Sie hält inne. Jetzt soll ich etwas sagen. Himmel, aber was nur?
“Also, wenn du mit jemandem reden willst, also mit jemand anderem als deinen Eltern, dann kannst du immer zu mir kommen.”
Wieder Stille.
“Hast du mir irgendetwas zu sagen?”
“Nein, Ma’am.”
“Sicher?”
“Ja, Ma’am.”
Wieder sind wir still, aber diesmal fühlt es sich anders an als vor ein paar Sekunden.
“Nun gut.” Sie drückt ihre Hüften wieder durch den engen Spalt zwischen Tisch und Stuhl. “Ich denke, das war alles.”
Ich flitze aus dem Zimmer wie ein Bulle beim Rodeo aus dem Gatter.
“He, Orla Mae, warte.”
“Was wollte Miss Ueland denn von dir?” Sie ordnet gerade ihre Bücher auf dem Tisch im Chemieraum. Es riecht nach Dampf und Metall.
“Ach, nichts”, lüge ich. “Sie hat mich nur ausgeschimpft, weil ich nicht aufgepasst habe.”
Orla Mae nickt. “Du, kann ich nach der Schule mit dir zu Mr. Wilson gehen und dir beim Schießen zusehen? Vielleicht bringt er’s mir auch bei.”
“Ja, vielleicht. Aber nicht heute, weil ich zur Post muss. Außerdem mag Mr. Wilson fremde Leute nicht. Uns mochte er anfangs auch nicht. Und seine Hündin, Brownie, nun, die ist alt und ganz schön böse.” Ich lüge schon wieder.
“Was für ein Hund ist das?”
“Aus der dreibeinigen Rasse.”
“So was gibt es nicht.”
“Gibt es wohl. Darum ist sie auch so böse. Sie ist sauer, dass sie nicht vier Beine hat wie alle anderen Hunde.”
“Schon gut, schon gut. Ich geh’ dem Hund aus dem Weg. Ich will dich nur schießen sehen. Bitte, bitte!”
Bevor ich antworten kann, stürmt der Chemielehrer Mr. Tyler durch die Tür, als ob wir etwas angestellt hätten.
“Nun gut, Leute”, beginnt er. “Welcher Klugscheißer hat meine ganzen Glasplatten verschmiert? Hm?”
9. KAPITEL
“H allo, Mr. Wilson!” Ich laufe auf sein baufälliges Haus zu. “Ich bin’s, Carrie.”
Aber er ist nirgends zu sehen.
“Hallo, Brownie.” Sie hoppelt auf mich zu, und ich streichle ihren Kopf. “Das reicht jetzt.” Ich finde es nervig, wenn sie ständig ihren Kopf gegen meine Hand presst. “Weg.” Aber sie hört nicht auf.
“Mr. Wilson?” Ich brülle so laut, dass ich auch im Haus zu hören sein muss, bekomme aber noch immer keine Antwort.
“Brownie, aus!” Doch das interessiert sie gar nicht. “Hör
auf!”
Sie ist viel leichter, als sie aussieht, das merke ich, als ich ihr in die Seite trete. Sie jault auf und taumelt viel weiter weg, als ich für möglich gehalten hätte. Mit schief gelegtem Kopf betrachtet sie mich, dann humpelt sie weg. Jetzt hat sie kapiert, dass ich es ernst meine, wie Richard sagen würde.
Nachdem ich die Verandatreppe hochgeklettert bin, lege ich eine Hand über die Augen und versuche, durch die Gittertür zu blicken. Vielleicht ist Mr. Wilson ja da und kann aus irgendeinem Grund nicht antworten. Doch es ist kein Lebenszeichen zu entdecken. Wo soll ich jetzt eine Briefmarke herbekommen?
Schnell schleiche ich auf Zehenspitzen ins Haus und überlege, wo er eine aufbewahren könnte … oder zumindest etwas Kleingeld, damit ich eine Briefmarke kaufen kann. Allerdings ist es unmöglich, zu erraten, wo man eines von beidem finden könnte. Ich muss mich beeilen, sonst schließt die Post, und nach einer Minute oder so gebe ich es auf.
“Was machst du in meinem Haus, Mädchen?” Mr. Wilsons Stimme fährt mir in die Glieder, die ich praktisch von der Decke kratzen muss, so sehr hat er mich erschreckt.
“Also, äh …”
“Also äh was? Was brauchst du?” Das klingt schon etwas freundlicher.
“Tut mir
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