Ich finde dich
gehofft, dass sie uns im »Wohnzimmer« alleine lassen würde, aber sie wartete. Ich räusperte mich.
»Miss Avery, Sie erinnern sich vielleicht nicht mehr an mich …«
»Natalies Hochzeit«, unterbrach sie mich. »Sie waren der verschmähte Liebhaber, den sie sitzen gelassen hat.«
Ich sah Bienenkorb an. Sie legte eine Hand auf Sylvia Averys Schulter. »Alles in Ordnung, Sylvia?«
»Natürlich ist alles in Ordnung«, fauchte sie. »Hauen Sie ab und lassen Sie uns in Ruhe.«
Das hölzerne Lächeln zuckte nicht einmal, so wie es für Holz eben typisch ist. Bienenkorb ging zurück zu ihrem Schreibtisch. Sie warf uns von dort noch einen Blick zu, als wollte sie sagen: Ich sitze zwar nicht bei euch, aber ich werde euch nicht aus den Augen lassen.
»Sie sind zu groß«, sagte Sylvia Avery zu mir.
»Tut mir leid.«
»Das hilft mir nichts. Setzen Sie sich einfach hin, damit ich mir nicht die ganze Zeit den Hals verrenken muss.«
»Oh«, sagte ich. »Tut mir leid.«
»Tut mir leid, tut mir leid … Jetzt setzen Sie sich endlich.«
Ich setzte mich auf das Sofa. Sie musterte mich einen Moment lang. »Was wollen Sie?«
Sylvia Avery wirkte klein und runzelig in ihrem Rollstuhl, aber wer wirkte in einem Rollstuhl schon gesund und kräftig? Ich antwortete mit einer Gegenfrage.
»Hören Sie jemals etwas von Natalie?«
Sie sah mich mit misstrauischem Blick an. »Wer will das wissen?«
»Äh, ich.«
»Sie schickt mir gelegentlich Karten. Warum?«
»Aber gesehen haben Sie sie nicht?«
»Nein. Aber das ist schon okay. Sie ist ein Freigeist, wissen Sie? Wenn man einem Freigeist seine Freiheit lässt, fliegt er davon. Deshalb nennt man solche Menschen Freigeister.«
»Wissen Sie, wo dieser Freigeist gelandet ist?«
»Nicht, dass es Sie etwas anginge, aber Natalie lebt im Ausland. Glücklich wie nur irgendwas mit ihrem Mann Todd. Ich freue mich darauf, dass die beiden irgendwann Kinder bekommen.« Ihre Augen verengten sich. »Wie war noch Ihr Name?«
»Jake Fisher.«
»Sind Sie verheiratet, Jake?«
»Nein.«
»Waren Sie je verheiratet?«
»Nein.«
»Haben Sie eine Frau oder eine feste Freundin?«
Ich sparte mir die Antwort.
»Wie schade.« Sylvia Avery schüttelte den Kopf. »Ein großer, kräftiger Mann wie Sie. Sie sollten heiraten. Eine Frau würde sich in Ihrer Gegenwart sicher fühlen. Sie dürfen nicht allein sein.«
Die Richtung, in die sich das Gespräch entwickelte, gefiel mir nicht. Also musste ich das Thema wechseln.
»Miss Avery?«
»Ja.«
»Wissen Sie, womit ich meine Brötchen verdiene?«
Sie sah mich von oben bis unten an. »Sie sehen aus wie ein Football-Spieler.«
»Ich bin College-Professor«, sagte ich.
»Oh.«
Ich wandte mich ihr direkt zu, damit ich ihre Reaktion auf meine Worte besser beobachten konnte. »Ich unterrichte Politikwissenschaft am Lanford College.«
Der letzte Hauch von Farbe wich aus ihren Wangen.
»Mrs Kleiner?«
»So heiße ich nicht.«
»So hießen Sie aber einmal, oder? Sie haben Ihren Mädchennamen wieder angenommen, nachdem Ihr Mann Lanford verlassen hat.«
Sie schloss die Augen. »Was wissen Sie darüber?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Hat Natalie Ihnen das erzählt?«
»Nein«, sagte ich. »Kein Wort. Nicht einmal, als ich mit ihr auf dem Campus war.«
»Gut.« Sie fuhr sich mit der zitternden Hand über den Mund. »Gott, woher wissen Sie dann davon?«
»Ich muss mit Ihrem Exmann sprechen.«
»Was?« Sie riss die Augen ängstlich auf. »Oh nein, das kann nicht wahr sein …«
»Was kann nicht wahr sein?«
Sie saß nur da, presste die Hand auf den Mund und schwieg.
»Bitte, Miss Avery. Es ist sehr wichtig, dass ich mit ihm spreche.«
Sylvia Avery kniff die Augen fest zusammen wie ein Kind, das sich wünschte, ein Monster würde verschwinden. Ich blickte ihr über die Schulter. Bienenkorb beobachtete uns mit unverhohlener Neugier. Ich rang mir ein Lächeln ab, das mindestens ebenso aufgesetzt wie ihres wirken musste, um ihr zu signalisieren, dass alles in Ordnung war.
Sylvia Avery flüsterte: »Warum wollen Sie gerade jetzt etwas darüber wissen?«
»Ich muss ihn sprechen.«
»Das ist alles so elendig lange her. Wissen Sie, was ich tun musste, um darüber hinwegzukommen? Wissen Sie, wie weh das tut?«
»Ich will niemandem wehtun.«
»Nicht? Dann hören Sie auf. Warum, um alles in der Welt, sollten Sie mit dem Mann reden wollen? Wissen Sie, was er Natalie angetan hat, als er durchgebrannt ist?«
Ich wartete, weil ich hoffte, dass sie
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