Ich finde dich
es ihr nicht übel. Ich glaube nicht, dass allzu viele Leute einfach mal in einem Altenheim vorbeischauen. »Wenn Sie sich hier bitte eintragen würden?«
»Selbstverständlich.«
Sie drehte ein übergroßes Gästebuch um, das mich an Hochzeiten, Beerdigungen oder Hotels in alten Filmen erinnerte, schob es zu mir herüber und reichte mir einen großen Füller. Ich trug meinen Namen ein. Die Frau drehte das Gästebuch wieder um.
»Mr Fisher.« Sie las meinen Namen sehr langsam vor. Dann sah sie mich an und blinzelte. »Darf ich fragen, woher Sie Miss Avery kennen?«
»Über ihre Tochter Natalie. Ich dachte, es wäre nett, mal vorbeizuschauen.«
»Sylvia wird sich sicher freuen.« Bienenkorb deutete nach links. »Unser Wohnzimmer ist frei, und es ist sehr gemütlich. Wollen Sie sich dort mit ihr treffen?«
Gemütlich? »Sehr gern«, sagte ich.
Bienenkorb stand auf. »Ich bin sofort wieder da. Machen Sie es sich bequem.«
Ich ging in das freie, gemütliche Wohnzimmer. Ich wusste, was los war. Bienenkorb wollte das Treffen im Blick behalten, für den Fall, dass ich nicht ganz koscher war. Logisch.
Sicher ist sicher. Die Sofas mit den Blumenmustern waren wirklich ganz hübsch, trotzdem vermittelten sie nicht den Eindruck, dass man sich darauf wohlfühlen konnte. Eigentlich vermittelte hier nichts diesen Eindruck. Die Ausstattung sah aus wie in einem Musterhaus, das perfekt dafür eingerichtet war, das Positive hervorzuheben, aber der Geruch nach Desinfektionsmitteln, Industriereiniger und – ja, ich wage, es auszusprechen – alten Menschen war unverkennbar. Ich blieb stehen. In der Ecke stand eine alte Frau mit einem Rollator in einem ramponierten Bademantel. Sie redete wild gestikulierend auf die Wand ein.
Mein neues Einweg-Handy fing an zu klingeln. Ich sah aufs Display, obwohl ich wusste, dass ich die Nummer nur einer Person gegeben hatte: Mrs Dinsmore. Ein Schild untersagte die Benutzung von Handys, aber in letzter Zeit bewegte ich mich sowieso regelmäßig am Rande der Legalität. Ich ging in eine Ecke, drehte mich zur Wand, nahm den Anruf an und flüsterte ganz im Stil der Frau mit dem Rollator: »Hallo?«
»Ich habe Archer Minors Akte«, sagte Mrs Dinsmore. »Soll ich sie Ihnen mailen?«
»Das wäre toll. Haben Sie sie direkt vor sich?«
»Ja.«
»Steht irgendetwas Seltsames drin?«
»Ich habe noch nicht reingesehen. Inwiefern seltsam?«
»Können Sie kurz einen Blick hineinwerfen?«
»Was soll ich suchen?«
Ich überlegte. »Wie wäre es mit einer Verbindung zwischen den beiden Mordopfern. Wohnten sie im selben Haus? Oder haben sie ein oder mehrere Seminare zusammen besucht?«
»Die beiden Fragen kann ich direkt beantworten. Archer Minor hatte sein Examen schon gemacht, als Todd Sanderson noch nicht einmal eingeschrieben war. Sonst noch etwas?«
Als ich darüber nachdachte, war es, als legten sich ein paar eisige Finger um mein Herz.
Mrs Dinsmore fragte: »Sind Sie noch dran?«
Ich schluckte. »War Archer Minor auf dem Campus, als Professor Kleiner durchgebrannt ist?«
Es entstand eine kurze Pause. Dann sagte Mrs Dinsmore mit abwesender Stimme: »Ich glaube, das war in seinem ersten oder zweiten Jahr hier.«
»Könnten Sie nachsehen, ob er …?«
»Schon dabei.« Ich hörte die Tastatur klappern. Ich sah mich um. Auf der anderen Seite des Raums winkte mir die alte Frau mit dem Rollator und dem ramponierten Bademantel vielsagend zu. Ich winkte ebenso vielsagend zurück. Warum auch nicht?
Dann sagte Mrs Dinsmore: »Jake?«
Wieder mein Vorname.
»Ja?«
»Archer Minor hat Professor Kleiners Seminar Bürgerrechte und Pluralismus besucht. Laut Akte bekam er eine Eins.«
Bienenkorb kam zurück. Sie schob Natalies Mutter in einem Rollstuhl vor sich her. Ich erkannte Sylvia Avery von der Hochzeit vor sechs Jahren. Schon damals sah sie für ihr Alter nicht sehr gut aus, und dem ersten Eindruck nach hatte sich das nicht gebessert.
Ich hatte das Handy noch am Ohr und fragte Mrs Dinsmore: »Wann?«
»Wann was?«
»Wann hat Archer Minor dieses Seminar besucht?«
»Einen Moment.« Dann hörte ich, wie Mrs Dinsmore kurz nach Luft schnappte. Ich kannte die Antwort bereits. »Das war in dem Semester, in dem Professor Kleiner verschwunden ist.«
Ich nickte. Daher die Eins. In dem Semester hatten alle eine Eins bekommen.
In meinem Kopf rotierte alles. Ohne darauf zu warten, dass es aufhörte, dankte ich Mrs Dinsmore und legte auf, als Bienenkorb Sylvia Avery zu mir herüberschob. Ich hatte
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