Ich finde dich
schon.«
»Ziemlich ausgereift.«
Ich konnte ihm kaum widersprechen. Ich wollte Otto Devereaux’ Beerdigung heimlich beobachten. Ich hoffte, dabei irgendwie in Erfahrung zu bringen, warum er mich entführt hatte, für wen er arbeitete und warum diese Leute hinter Natalie her waren. Die Details musste ich noch näher ausarbeiten – zum Beispiel, wie das Ganze überhaupt funktionieren sollte –, aber im Moment hatte ich sowieso keine Arbeit, und untätig herumzusitzen, bis Bob oder Jed mich fanden, war auch keine erbauliche Alternative.
Daher wollte ich lieber selbst die Initiative ergreifen. Das hätte ich auch meinen Studenten geraten.
Die Route 95 in Connecticut und New York ist im Prinzip eine Aneinanderreihung von Baustellen, die sich als Interstate Highway maskieren. Trotzdem kam ich recht zügig voran. Das Franklin-Begräbnisinstitut lag am Northern Boulevard in Flushing, Queens. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund zeigte das Foto auf ihrer Webseite die allseits beliebte Bow Bridge aus dem Central Park, die man aus den Hochzeitsszenen fast aller romantischen Komödien kennt, die in Manhattan spielen. Ich hatte keine Ahnung, warum sie diese Brücke anstatt eines Fotos ihres Beerdigungsinstituts gewählt hatten – bis ich davor anhielt.
Was für eine letzte Ruhestätte.
Das Franklin Beerdigungsinstitut sah aus, als wäre es 1978 für zwei Zahnarztpraxen und vielleicht noch die eines Proktologen erbaut worden. Das Gelb der Fassade gemahnte an die Zähne eines Kettenrauchers. Hochzeiten, Partys und sonstige Feierlichkeiten spiegeln oft die Persönlichkeit des Gastgebers wider. Für Beerdigungen galt das so gut wie nie. Der Tod war wirklich der große Gleichmacher, und zwar so sehr, dass alle Beerdigungsinstitute, abgesehen von denen in Spielfilmen, im Endeffekt identisch sind. Sie sind immer farblos, routiniert und bieten weniger Trost und Zuspruch als vielmehr Phrasen und Rituale.
Und was jetzt? Ich konnte schließlich nicht einfach reingehen. Womöglich war Bob da. Ich könnte versuchen, mich im Hintergrund zu halten, aber Männer meiner Größe können nicht so leicht in einer Menschenmenge verschwinden. Ein Mann im schwarzen Anzug zeigte den Trauergästen, wo sie parken sollten. Ich fuhr vor und versuchte ein Lächeln aufzusetzen, das dem Besuch einer Beerdigung angemessen schien – was auch immer das genau bedeuten mochte. Der Mann im schwarzen Anzug fragte: »Wollen Sie zur Beisetzung von Devereaux oder von Johnson?«
Geistesgegenwärtig wie ich war, sagte ich: »Johnson.«
»Dann parken Sie bitte links.«
Ich fuhr auf den weitläufigen Parkplatz. Die Johnson-Beerdigung fand offenbar vorn am Eingang statt. Für Ottos war weiter hinten ein Zelt aufgebaut. Rechts in der Ecke entdeckte ich einen freien Parkplatz, in den ich rückwärts hineinsetzte, so dass ich einen perfekten Blick auf das Devereaux-Zelt hatte. Falls mich durch Zufall jemand von der Johnson-Beerdigung oder ein Mitarbeiter des Beerdigungsinstituts entdeckte, könnte ich immer noch den Trauergast geben, der einen Moment lang Ruhe brauchte.
Ich dachte an meinen letzten Beerdigungsbesuch vor gerade einmal sechs Tagen in einer kleinen Kapelle in Palmetto Bluff. Wenn ich meine Zeitleiste dabeigehabt hätte, wäre mir darauf die sechsjährige Lücke zwischen der Hochzeit in einer weißen Kapelle und der Beerdigung in einer anderen ins Auge gefallen. Sechs Jahre. Ich überlegte, wie viele Tage in diesen sechs Jahren vergangen waren, in denen ich nicht in irgendeiner Form an Natalie gedacht hatte, und mir wurde schnell bewusst, dass die Antwort nicht ein einziger lautete.
Die viel interessantere Frage war im Moment jedoch: Wie waren die letzten sechs Jahre für sie verlaufen?
Eine Stretch-Limousine fuhr beim Zelt vor und hielt an. Noch so ein seltsames Ritual: Oft fahren wir nur ein einziges Mal in einem Auto mit, das wir mit Luxus und Dekadenz verbinden, und das ist ausgerechnet dann, wenn wir über den Tod eines geliebten Menschen trauern. Vielleicht gibt es ja auch tatsächlich keinen besseren Zeitpunkt dafür? Zwei Männer in dunklen Anzügen gingen hinüber und öffneten die Türen der Limousine – es fehlte nur der rote Teppich. Eine schlanke Mittdreißigerin stieg aus. Sie hatte einen etwa sechs- oder siebenjährigen Jungen mit langen roten Haaren an der Hand. Der kleine Junge trug einen schwarzen Anzug, was mir fast obszön vorkam. Kleine Jungen sollten einfach keine schwarzen Anzüge tragen.
Dieser eigentlich doch so
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