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Ich finde dich

Ich finde dich

Titel: Ich finde dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harlan Coben
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naheliegende Punkt war mir noch gar nicht in den Sinn gekommen: Otto könnte Familie haben. Otto könnte eine schlanke Frau gehabt haben, mit der er Tisch, Bett und seine Träume geteilt hatte. Er könnte einen langhaarigen Sohn gehabt haben, der ihn geliebt und mit dem er im Garten Ball gespielt hatte. Weitere Personen stiegen aus der Limousine. Eine ältere Frau wischte sich die nicht enden wollenden Tränen mit ihrem in der Faust zusammengeknüllten Taschentuch ab. Sie musste von einem jüngeren Paar fast zum Zelt getragen werden. Ottos Mutter und seine Geschwister? Ich wusste es nicht. Die Familie bildete eine Reihe am Zelteingang. Mit eindeutig verstörten Mienen begrüßten sie die Trauergäste. Der kleine Junge wirkte verloren, verwirrt, verängstigt, als hätte sich jemand heimlich angeschlichen und ihm in den Bauch geschlagen.
    Das musste ich wohl auf meine Rechnung nehmen.
    Ich saß absolut still. Ich hatte Otto nur als abgeschlossene Einheit gesehen. Ich hatte gedacht, ihn zu töten wäre nur eine private Tragödie, das Ende eines vereinzelten, isolierten Menschenlebens. Aber keiner von uns war wirklich isoliert. Jeder Tod schlug Wellen, erzeugte einen Nachhall.
    So schwer es mir auch fiel, das Ergebnis anzusehen, im Endeffekt änderte das nichts daran, dass mein Handeln gerechtfertigt gewesen war. Ich richtete mich etwas weiter auf und sah mir die Trauergäste genauer an. Ich hatte erwartet, dass die Reihe vor dem Eingang aussehen würde wie die Schlange bei einem Statisten-Casting für die Mafia-Serie Die Sopranos . Ein paar der Gestalten sahen auch fraglos so aus, insgesamt wirkte die Trauergemeinde jedoch sehr gemischt. Die Gäste schüttelten der Familie die Hand, umarmten sie, und manche küssten sich. Manche hielten die Umarmungen lange, manche klopften sich nur kurz auf die Schultern. Irgendwann brach die Frau, die ich für Ottos Mutter hielt, fast zusammen, aber zwei Männer fingen sie auf.
    Ich hatte ihren Sohn getötet. Der Gedanke war gleichermaßen real wie auch unwirklich.
    Eine weitere Stretch-Limousine fuhr vor und hielt direkt vor der Begrüßungsreihe. Alle schienen kurz zu erstarren. Zwei Männer, die wie Offensive Linemen einer American-Football-Mannschaft aussahen, öffneten die Hintertür. Ein großer, dünner Mann mit Pomade in den Haaren stieg aus. Die Menge fing an zu tuscheln. Der Mann musste über siebzig sein und kam mir irgendwie bekannt vor, ich konnte ihn jedoch nicht einordnen. Er stellte sich nicht hinten an der Schlange an, vielmehr teilte sich die Menge vor ihm wie das Rote Meer vor Moses. Der Mann hatte einen dieser dünnen Schnurrbärte, die aussahen wie mit einem Bleistift aufgemalt. Er nickte ein paar Mal, während er auf die Familie zuging, und schüttelte einigen Leuten kurz die Hand.
    Wer immer der Mann war, er war wichtig.
    Der dünne Mann mit dem dünnen Schnurrbart blieb stehen und begrüßte jedes Familienmitglied. Eins von ihnen – ich hielt ihn für Ottos Schwager – ging auf die Knie. Der dünne Mann schüttelte den Kopf, worauf sich der vermeintliche Schwager zaghaft wieder erhob. Einer der Offensive Linemen blieb immer einen Schritt vor dem dünnen Mann, der andere einen Schritt hinter ihm. Keiner folgte ihnen, während sie die Empfangsreihe abschritten.
    Nachdem der dünne Mann die Hand von Ottos Mutter geschüttelt hatte, die die Letzte in der Reihe war, drehte er sich um und ging zurück zu seiner Limousine. Ein Lineman öffnete ihm die Hintertür. Der dünne Mann stieg ein. Die Tür wurde geschlossen. Ein Lineman nahm auf dem Fahrersitz Platz, der andere neben ihm auf dem Beifahrersitz. Die Stretch-Limousine setzte zurück. Alle warteten darauf, dass die Limousine mit dem dünnen Mann davonfuhr.
    Auch eine Minute nachdem die Limousine außer Sicht war, rührte sich noch niemand. Eine Frau bekreuzigte sich. Schließlich setzte sich die Schlange wieder in Bewegung. Die Familie nahm weiter Beileidsbekundungen entgegen. Ich wartete, fragte mich, wer der dünne Mann war und ob das für mich irgendeine Bedeutung hatte. Ottos Mutter fing wieder an zu schluchzen.
    Als ich sie ansah, gaben ihre Knie nach. Sie fiel in die Arme eines Mannes und weinte an seiner Brust. Der Mann half ihr wieder auf die Beine, und sie durfte sich an seiner Brust ausweinen. Ich sah, dass er ihr den Rücken streichelte und ihr seine Anteilnahme aussprach. Er hielt sie lange in seinen Armen. Der Mann blieb extrem geduldig stehen und wartete.
    Es war Bob.
    Ich duckte mich in meinen

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